As slow as possible
Kaum ein Ereignis, das auf sich hält, kommt heute noch ohne Livestream aus: Ob im vergangenen Jahr die Gezi-Proteste oder vor einigen Wochen die Landung einer Raumsonde auf einem Kometen – was sich nicht in Echtzeit online verfolgen lässt, findet quasi nicht statt. Kulturpessimisten halten so was für einen Auswuchs unserer ach so hektischen Mediengesellschaft, die ja bekanntlich gemeinsam mit selbstbewussten Frauen und heiratenden Schwulen das Abendland in den Abgrund stürzen wird.
Was nicht stürzt – jedenfalls bis Redaktionsschluss – ist der Berg Mannen in Westnorwegen. Das ist ein bisschen peinlich für die Geologen, die Ende Oktober einen unmittelbar bevorstehenden Erdrutsch vorhersagten und damit neben einer Evakuierung des Gebiets auch die Medien in Gang setzten. Die umrundeten den Berg im Hubschrauber, richteten ihre Livecams auf den Gipfel und warteten. Und warteten. Und machten, als sich der Berg nun gar nicht an irgendwelche Termine halten mochte, ein Sendekonzept daraus. Seither kann man rund um die Uhr einer Felswand beim Inder-Gegend-Herumstehen zusehen. Das Publikum nahm das Angebot dankend an, nicht zuletzt, weil »Mannen« schlicht »der Mann« bedeutet und damit zu mehr oder minder jugendfreien Kalauern einlädt. Für genau diesen Zweck wurde Twitter erfunden, und so wurden 120.000 Kubikmeter Gestein zum Internetstar.
Nun ist Norwegen ohnehin die Heimat des »Slow TV«, Millionen verfolgten bereits die 134stündige Tour eines Schiffs durch die Fjorde, eine »Nationale Strick-« und eine »Nationale Feuerholznacht«. Im Gegensatz zu diesen inszenierten Nicht-Events führt diesmal jedoch die Natur höchstselbst Regie und erhöht den Charme der Sache erheblich. Der Berg bewegt sich einige Millimeter bis Zentimeter pro Tag, gelegentlich lässt er ein paar Steine fallen. Dass er in näherer Zukunft zu Tal rauschen wird, ist unausweichlich, die geologische Definition von »nähere Zukunft« allerdings dehnbar: Je nach Wetter kann das eine Sache von Tagen oder Wochen sein; der Felsen könnte über den Winter aber auch buchstäblich festfrieren und einsetzendes Tauwetter ihm dann den Rest geben.
Wer wetten will, ob der Berg oder die Streambetreiber samt Fangemeinde mehr Geduld aufbringen, sollte sich beim meditativen Internetgucken die Zeitmaßstäbe vor Augen führen: Das Gestein des Mannen entstand vor einer halben Milliarde Jahren. Das ist sogar für einen Berg – nun ja: steinalt. Über das berühmte Teertropfenexperiment, bei dem etwa einmal pro Jahrzehnt ein zäher Klacks fällt, kann so ein Berg nur lachen. Herausforderung angenommen.
- Svenna Triebler -