Die Krise macht dem Kapital mehr zu schaffen, als die Erfolgsmeldungen der letzten Zeit vermuten lassen. Von JustIn Monday
In Wirklichkeit hätten die Banken ihr Geld ohnehin nicht mehr wiederbekommen, also abschreiben müssen. Jetzt ließen sie sich das durch eine staatliche Garantie für dreißig Prozent der restlichen Außenstände vergolden.« So kommentierte Georg Fülberth (in konkret texte 56) den Erlaß von 53,5 Prozent der griechischen Staatsschulden 2012. Und nichts an diesen beiden Sätzen ist falsch außer die Implikation, die das »vergolden« am Ende bezweckt. Diese Implikation geht so: Der Kapitalismus befindet sich keineswegs in einer besonderen Krisensituation – im Gegenteil, die Bourgeoisie steht gut da, und es gelingt ihr, auch aus dem allgemeinen Desaster noch Profit zu schlagen und sich Verluste vergolden zu lassen.
Eine solche, seltsam abgeklärte Haltung ist typisch für einen großen Teil der linken Kommentare zum Krisengeschehen. Es wird eine »Wirklichkeit« behauptet, in der es ganz normal sein soll, daß Banken einfach mal Besitztitel als Verluste verbuchen müssen, die über Jahrzehnte als eine der sichersten Geldanlagen überhaupt gegolten haben. Gleichzeitig soll ein solcher Zustand kein grundsätzliches Problem sein. Wo eine qualitative Differenz bemerkt werden müßte, weil sich die Widersprüche des Kapitalismus anders darstellen als gewöhnlich, bleibt es bei einer abwiegelnden Geste. Da haben halt nur ein paar Kapitalisten ein schlechtes Geschäft gemacht. Kommt vor, zur Zeit eben ein wenig häufiger. Daher soll im folgenden die Aufmerksamkeit auf einige nicht ganz zufällig ausgewählte Phänomene gerichtet werden, die deutlich machen, daß es sich bei der Krise um eine Ausnahmesituation der kapitalistischen Gesellschaft handelt, die eine spezifisch krisentheoretisch motivierte Kritik erfordert.
Staatsanleihen
Daß Staatsschulden inzwischen als potentiell risikoreiche Anlagen gelten, ist ein guter Ansatzpunkt, das Problem zu erläutern. Selbstverständlich hätten die Banken ihr Geld nicht bekommen, hätten sich die EU und der IWF nicht um die Bedingungen der Rückzahlung der Schulden gekümmert und die Dinge statt dessen ihren marktwirtschaftlichen Gang gehen lassen. Niemand hätte Griechenland neues Geld geliehen, Steuereinnahmen in der notwendigen Höhe wären auch nicht entstanden, und der Finanzminister hätte die Zahlungsunfähigkeit erklären müssen.
Nur: Was bedeutet das? Die Antwort auf diese Frage teilt sich in zwei Unterfragen: 1. Warum ist niemand bereit, Geld zu leihen? 2. Warum fließen die Steuereinnahmen nicht?
Mangelnde Bereitschaft, Geld zu verleihen, kann wiederum zwei Gründe haben. Zum einen könnte es sein, daß niemand etwas übrig hat. Dieser Sachverhalt liegt nicht vor, denn die Finanzmärkte sind mit mehr Geld vollgepumpt, als sie tragen können. Der zweite ist die allgemeine Erwartung, daß das Geld nicht zurückgezahlt werden wird. Weswegen der Blick auf die zweite Frage gelenkt wird, denn die Steuereinnahmen sind letztlich der einzige Weg, über den Zinsen gezahlt werden können. Und da gilt: In dem Grad, in dem der Staat als Repräsentant des ideellen Gesamtkapitals der privatwirtschaftlichen Konkurrenz enthoben ist, in dem Grad kann es ihm auch egal sein, von wem er die Steuern kassiert, aus denen er seine Zinsen bezahlt. Er wird den größten Anteil immer vom Sieger in der Konkurrenz bekommen, aber wer der Sieger ist, ist völlig gleichgültig. Wenn die Steuereinnahmen nicht im gewünschten Maß fließen, bedeutet das also, daß aufs Ganze gesehen nicht mehr genügend Profit gemacht wird. Diejenigen, die Staatsanleihen gekauft haben, haben nicht einfach aufs falsche Pferd gesetzt, wie es bei der Vergabe von Kredit an ein Einzelunternehmen passieren kann. Die Profitquellen müssen insgesamt weniger hergeben, wenn alle Pferde in der Summe nicht genügend einbringen.
Wertloser Profit
Eine gängige Vorstellung, die dieser Diagnose widerspricht, besagt, daß nicht die Basis der Steuereinnahmen weggebrochen sei, sondern die Staaten sich nur willentlich die Möglichkeit verbaut hätten, welche zu kassieren. Zum einen, weil sie mit dem, was unter »Liberalisierung des Finanzmarkts« läuft, den Mehrwerttransfer ins Ausland begünstigen würden, und zum anderen, weil insgesamt die Steuern gesenkt worden seien.
Tatsächlich gibt es solche Verlagerungen. Wenn die ausländische Konkurrenz über die inländische gesiegt hat, kann es sein, daß die Profite, je nach Steuerrecht der beteiligten Staaten, nicht im Inland, sondern im Ausland anfallen – und somit auch die Steuern. Dies auch teilweise mit dem Ergebnis, daß die absolute Steuerquote enorm gesunken ist, weil die Länder, in die der Mehrwert transferiert wird, weniger Steuern erheben und dies zu ihrem »Geschäftsmodell« gemacht haben. Nur ändert das die Diagnose, daß die Quelle des Profits versiegt sein muß, kein Stück, weil das Problem sowohl alle Staaten als auch alle gesellschaftlichen Sphären (Staatshaushalte, Finanzkapital und Produktivkapital) trifft. Denn daß die vergangenen Profite nun als Geld in einer anderen Währung in einem anderen Hoheitsgebiet oder innerhalb eines Staates als Privatvermögen (zum Beispiel infolge von Steuersenkungen) zirkulieren, heißt nicht, daß sie sich von ihrem Entstehungsgrund unabhängig machen können und ihr Wert von sich aus bestehen bleibt, nachdem ihre Aneignung zum Ruin der besiegten Konkurrenz geführt hat.
Hätte es etwa »bloß« eine durch politische Begünstigung forcierte Verlagerung der Profite des Produktionskapitals hin zum Finanzsektor gegeben – letztlich auf Kosten der Löhne –, dürften die Banken nicht ebenfalls in einer prekären Situation sein. Es sei denn, der Erhalt des Werts ihrer Profite selbst stellt ein Problem dar. Wenn der erhalten gebliebene Mehrwert sich nur anderswo sammelt, müßten diejenigen, die am meisten davon haben, die anderen sanieren können und damit im Ergebnis von einem Monopolisierungsprozeß profitieren. Mit dem Transfer ins Ausland verhält es sich genauso. Sieg in der Konkurrenz über ausländisches Kapital bedeutet ja nicht zuletzt, daß die Absatzmärkte des besiegten Kapitals mit übernommen worden sind. Wenn die nicht weiter bestehen, weil dort niemand mehr in der Lage ist zu kaufen, hat der Sieger nichts als wertlose Konkursmasse gewonnen. Und genau diese Wertlosigkeit des Siegs in der Konkurrenz wird im rapiden Wertverlust der Staatsanleihen deutlich. Es ist dies ein Phänomen, das dem Kapitalismus nicht schon immer eigen gewesen sein kann, denn sonst hätte er sich nie über die Erde verbreiten können.
Es wird versucht, zu sparen
Der Kapitalismus ist ein System der Akkumulation von Kapital, das heißt, es besteht der Zwang, mit dem Mittel der Produktion von Gebrauchswerten, also der Verwendung und damit Ausbeutung von Arbeit, aus dem bestehenden Kapital mehr Kapital zu machen. »Notwendiges Wachstum« heißt dies im positivistischen Jargon der Volkswirtschaftslehre, und auch diejenigen marxistischen Strömungen, die das Produktionsverhältnis auf ein ausbeuterisches Klassenverhältnis verkürzen, tragen dem implizit Rechnung. Der Staatsapparat ist nach dieser Theorie, und da haben ihre Vertreter/innen nicht unrecht, bevölkert und belagert von Vertreter/innen von Interessenverbänden jeglicher Art von Industrie, die nicht nur ihr Interesse an guten Produktionsbedingungen für ihr Kapital vertreten sehen wollen, sondern auch das an guten Absatzmöglichkeiten. Letzteres ist im Verlauf der Geschichte des Kapitalismus immer wichtiger geworden; parallel auch zur zunehmenden Bedeutung der Werbung. Dabei geht es nicht nur um diejenigen Industriezweige, deren Produkte direkt vom Staat abgenommen werden – wie die Waffenindustrie –oder nur durch unmittelbare Protektion des Staates überhaupt einen Markt haben – etwa die Atomindustrie oder Branchen, die Infrastrukturleistungen erbringen. Es geht auch um die Pharmahersteller, die vom Krankenversicherungssystem leben, um die Autoindustrie, die ohne die sozialpartnerschaftlichen Löhne nie zu ihrem heutigen Produktionsvolumen gekommen wäre, und so weiter.
Wenn der Staat es darauf anlegt zu sparen, ist dies ein Vergehen gegen all diese Interessen. Er sorgt dabei nicht mehr als allgemeiner Gesamtkapitalist dafür, daß die Bedingungen für alle Kapitale politisch gleich sind, damit letztlich auf Basis der vergangenen Akkumulation das ökonomische Kräftespiel entscheidet. Hierfür wäre ein politischer Ausgleich der artikulierten Interessen erforderlich. Statt dessen stutzt er sie nach notwendig unökonomischen Kriterien zurecht. Indem er primär versucht, die Produktion billiger zu machen, ruiniert er den Absatz. Das ist keine wohlüberlegte Interessenvertretung, sondern eine Notreaktion in einer unverstandenen Situation. Auch wenn dies die Krise verstärkt, verweist allein der Umstand, daß so etwas politisch durchsetzbar ist, auf die Ausnahmesituation.
Bankenpleiten verboten
Ebenfalls ein im Normalzustand nicht auffindbares Phänomen sind die institutionellen Folgen des Hickhacks um die Bankenrettung. Zum einen verhält es sich mit den Banken ähnlich wie mit den Staatsanleihen. Als Kreditgeber machen sie ihre Gewinne als Anteil an den Profiten der produzierenden Branchen, weswegen auch sie vom Profitmangel betroffen sind. Aber auch politisch wird bei der Bankenrettung nur auf den ersten Blick das Interesse der Branche durchgesetzt. Tatsächlich werden die Banken daran gehindert, ihr je eigenes Bedürfnis nach Wachstum gegen die Konkurrenz zu verwirklichen. Denn jede Rettung einer Bank zeugt davon, daß nicht zugelassen wird, sich gegen diese in der Konkurrenz durchzusetzen und damit an deren Umsatz zu partizipieren. Daher protestiert hiergegen nicht nur die Linkspartei. Auch die Mehrzahl des ökonomischen Fachpersonals spricht sich dagegen aus und befindet sich damit in einem Konflikt mit dem Großteil des politischen Personals. Eine Konstellation, die nicht zuletzt für die Gründung der AfD entscheidend war. Zweifellos ist die gleiche Forderung gegensätzlich motiviert. Während die Linkspartei so verhindern möchte, daß »der Steuerzahler« oder ein anderes nationales »Wir«, »die Banken rettet«, plagt die Volkswirtschaftler/innen, daß bei der gemeinsam diagnostizierten »Vergesellschaftung der Verluste« die Sieger im ökonomischen Wettbewerb weniger gewinnen, als ihnen zusteht, und die Verlierer nicht wirklich verlieren. Wettbewerbsverzerrung nennen sie das.
Wenn sich nun aber zwei derart entgegengesetzte Positionen so einig sind und auch dem Rest bei der staatlichen Intervention zur Bankenrettung unwohl ist, gehört die Frage gestellt: Warum gibt es diese Interventionen überhaupt?
Die Antwort ist einfach. Die Interventionen sind eine Reaktion darauf, daß sich ein Großteil der Pleitebanken 2008 als »too big to fail« erwiesen hat. Was daran liegt, daß auch in ihnen die gesamtgesellschaftliche Wertmasse zirkuliert und sich ohne diese Zirkulation nicht zu erhalten vermag. Getrieben von Notwendigkeit wird die Ausnahmesituation nun institutionalisiert. Als »europäische Antwort auf das ›Too big to fail‹-Problem« bezeichnet etwa die »Neue Zürcher Zeitung« die unter dem Stichwort »Haftungskaskade« beziehungsweise bail-in Mitte Dezember beschlossene Invertierung des Insolvenzrechts für Banken: »Die nationalen Abwicklungsbehörden können Ansprüche der Aktionäre, Anleihegläubiger und Einleger mit Einlagen von über 100.000 Euro abschreiben oder in Eigenkapital umwandeln, wenn eine systemrelevante Bank zusammenbricht oder zusammenzubrechen droht. … An erster Stelle werden die Aktionäre zur Kasse gebeten, am Schluß Einlagen von natürlichen Personen und KMU.« Mit anderen Worten: Hier geht es nicht wie im klassischen Insolvenzrecht darum zu regeln, wer die eigenen Forderungen zuerst aus der Konkursmasse beglichen bekommt. Dabei kämen die Aktienbesitzer/innen selbstverständlich als letzte an die Reihe. Umgekehrt geht es darum, wer zuerst zum Zahlen gezwungen werden kann, um das Eigenkapital der Banken so zu erhöhen, daß eine Insolvenz abgewendet wird. So handelt es sich um eine Form der Zwangsinvestition, die nötig wird, wenn sich auf dem freien Markt keine weiteren Investoren finden.
Die EU betrachtet die bislang praktizierte Bankenrettung durch die Staaten nicht als Lobbyarbeit für die Bankenbranche, sondern als abzuschaffende Notlösung und greift mit der neuen Regelung fundamentale private Eigentumsrechte an. Denn diese schließen Zwangsinvestitionen aus, dafür aber gehört zu ihnen das Recht auf die Entscheidung darüber, in welcher rechtlichen Beziehung das eigene Vermögen zu den Banken stehen soll. Es macht einen Unterschied, ob das eigene Vermögen in eine Bank investiert wird, ob es in Form von Aktien Anteile an der Dividende sichern soll, oder ob es auf dem Konto liegt. Diese Differenz ebnet die Invertierung des Insolvenzrechts ein. Wenn aber die juristischen Formen, in denen die Bourgeoisie ihre Geschäfte tätigt, in irgendeinem notwendigen Zusammenhang zu den ökonomischen Formen stehen, in denen sie ihre Gewinne macht, bedeutet eine solche Umkehrung, daß diese Formen sich in einem fragilen Zustand befinden und mal wieder Gemeinnutz vor Eigennutz gehen soll.
Insolvenzen
Seit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz 2008 ist der Insolvenzgrund der Überschuldung so definiert: »Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist.« In der zuvor geltenden Fassung war das willkürlich auslegbare Ausnahmekriterium der »überwiegend wahrscheinlichen Fortführung« nicht enthalten. Grund für die Neuregelung war das Problem, daß nach den Wertverlusten von Wertpapieren in Folge der Finanzmarktkrise der Wert der Vermögen vieler Unternehmen so weit gesunken war, daß sie Insolvenz hätten anmelden müssen.
Dabei gehört ein strenges und vor allem eindeutiges Insolvenzrecht zum Grundbestand des bürgerlichen Rechts, und das ist im ureigenen Interesse der Bourgeoisie – und zwar gerade desjenigen Teils, der sich in der Finanzsphäre tummelt. Der Straftatbestand der Insolvenzverschleppung schützt Gläubiger, weil er Schuldnern eine Grenze der Schuldenaufnahme setzt. Hieraus läßt sich ablesen, für wie instabil die Regierungen die Zirkulation von Geld und Kredit weiterhin halten, denn das geltende Recht bedeutet, daß sie zur Sicherung der Zirkulation bereit sind, jedem Geldverleiher ein unberechenbares Risiko zuzumuten. Wie unwohl dem Gesetzgeber bei der Regelung ist, läßt sich daraus erkennen, daß sie zunächst bis Ende 2010 befristet war und dann bis Ende 2013 verlängert wurde. Weil eine Fortführung der Krisensituation aber für überwiegend wahrscheinlich gehalten wird, gilt sie inzwischen unbefristet.
Die Wirtschaftswissenschaft
Ein Resultat der Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise, der letzten Krise des Kapitals mit ähnlichem Ausmaß, war die häufig als »fordistische Regulation« bezeichnete neue Form der Beziehung von Staat und Kapital. In ihr kam dem Staat eine präventiv krisenvermeidende Funktion zu. Hieraus entstanden neue Formen ökonomischen Fachwissens, die von dem Widerspruch bestimmt waren, daß einerseits für unantastbar gehaltene Gesetze einer Volkswirtschaft im Gleichgewicht erkundet werden sollten, es andererseits aber möglich werden mußte zu erkennen, wie die Volkswirtschaft im Gleichgewicht gehalten werden kann und wann dies getan werden muß. Einerseits mußte die Vermittlung durch den Markt gestützt werden, und andererseits sollte dies in einer Weise geschehen, die dem »eigentlichen Verlauf« der Marktbewegung entsprechen sollte. Weswegen dieser Verlauf gleichzeitig in wissenschaftlichen Modellen konstruiert werden mußte.
Diese Aufgabe, die von der Aufrechterhaltung der Geldwertstabilität qua Geldpolitik über die Monopolkontrolle bis zur Konsumforschung reicht, bildet den Aktionsradius der heute als Wirtschaftswissenschaft bekannten Modellkonstruktionen auf statistischer Basis. Und weil die historische Voraussetzung hierfür die Existenz eines autoritären Staates war, ist das wirtschaftswissenschaftliche Personal inmitten der Staatsbürokratie angesiedelt, in der es aber momentan, trotz erhöhtem Bedarf an Expertentum, kaum Gehör findet. Daher haben sich diese Expertinnen und Experten seit einigen Jahren Aktionsformen angewöhnt, die bislang als Nebenbeschäftigung friedensbewegter Pfaffen und Schriftsteller/innen galten: eine warnende Unterschriftenaktion der Branchenprominenz und deren Institutskollegium nach der anderen.
Der Grund hierfür dürfte zum einen ganz simpel darin liegen, daß sich niemand mehr traut, die von den politischen Institutionen erwarteten Beurteilungen der Sachlage auf die eigenen Schultern zu nehmen. Daher werden sie nun solidarisch und verabreichen ihre Expertise in einer Form, in der sich ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen ebenfalls blamiert, wenn die Realität den Modellen mal wieder nicht gehorcht. Das läßt sich mit Schadenfreude beobachten. Für die Krisentheorie relevanter ist aber der Grund für die dauernden Fehleinschätzungen. Sie entstehen, weil der Kapitalismus keine in sich logische Struktur ist, sondern sich als Ganzes durch immanente, dialektische Widersprüche hindurch bewegt, die Modelle aber nach dem wissenschaftlichen Ideal der Widerspruchsfreiheit gebildet werden. Weil in der Krise aber die Reproduktion des Gesamtzusammenhangs auf dem Spiel steht, müßte das Wissen von jener auf die Widersprüche eben dieses Gesamtzusammenhangs bezogen werden. Aber bevor das gelingt, wird es möglich sein, Spiegeleier mit diesem Wissen zu braten.
Entstehung und Reproduktion des Werts von Profiten beziehungsweise Geld im Allgemeinen ergeben sich in einer kapitalistischen Gesellschaft naturwüchsig hinter den Rücken der Akteure. Die wirtschaftstheoretischen Modelle gehen a priori von bereits konstituierten Wertverhältnissen aus, weswegen sie rein quantitativ sein können, aber keine Modelle zu deren Konstitution darstellen. Genau das wird in der Krise aber von der politischen Seite verlangt, weswegen das wirtschaftswissenschaftliche Wissen nutzlos wird. Gleichzeitig verliert damit die Politik die Fähigkeit, ihr demokratisches Gestaltungspotential zu preisen. Denn dieses bezog sie aus der Möglichkeit, anhand der Modelle zu berechnen, was passieren könnte, wenn die Lohnquote steigt, der Außenhandel abnimmt oder die Leitzinsen gesenkt werden. Wirtschaftspolitik bewirkt die Veränderung institutioneller Rahmenbedingungen mit dem Ziel der Beeinflussung dieser in den Modellen als Faktoren vorkommenden Größen.
In der Krise aber sind sowohl die politischen als auch die ökonomischen Institutionen damit konfrontiert, daß sich die naturwüchsige Vermittlung, die ein Wesensmerkmal kapitalistischer Verhältnisse ist und im Normalfall innerhalb der Institutionen zu deren Gunsten schlichtweg geschieht, gegen sie wendet. Die oben geschilderten Einzelphänomene sind zum einen direkte Resultate dieses Umschlags und zum anderen bereits Reaktionen hierauf. Sie alle sind gekennzeichnet von dem grundlegenden Sachverhalt, daß Verhältnisse, denen naturwüchsige Vermittlung wesentlich ist, nicht identisch bestehen bleiben können, wenn auch nur versucht wird, den Prozeß hinter dem Rücken der Akteure durch politische Willensakte zu ersetzen. Daraus resultiert eine andere Qualität, die eine theoretische Bestimmung verlangt, mit der der Unterschied zwischen naturwüchsiger Vermittlung und panischen Versuchen, diese willentlich herbeizuführen, deutlich wird. Profit etwa kann nicht einfach Profit bleiben, wenn sich die ideologischen, politischen und institutionellen Bedingungen seiner Möglichkeit wandeln müssen, damit sein zuvor als Selbstverständlichkeit angenommener Erhalt auch nur denkbar bleibt.
Die eingangs erwähnte abgeklärte Position, der zufolge die Einzelkapitalien weiterhin die Eigentümer/innen des gesellschaftlichen Reichtums bleiben, setzt sich zwar kritisch von jenem Teil der sozialdemokratischen Linken ab, der auf die Krisenerscheinungen mit dem Verzicht auf Forderungen reagiert, also etwa mit »Lohnzurückhaltung«, der Hinnahme einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen oder – im schlimmsten Fall – mit der Artikulation vermeintlicher Standortinteressen. Ihr entgeht dabei aber der wesentliche Skandal: Der mit der Krise verbundene Einbruch der Produktion und die damit einhergehende Verelendung entstehen nicht aus Mangel, sondern umgekehrt weil die Gesellschaft reicher ist, als es der Kapitalismus erlaubt.
JustIn Monday schrieb in KONKRET 12/13 über die Kritik am deutschen Handelsüberschuß