»Essen wie unsere Vorfahren« lautet der Slogan der jüngsten, geradezu ultimativen Regressionsbewegung, der »Paläo-Diät«. Von Stefan Gärtner
Es mag die gegenwärtige Zivilisation kennzeichnen, dass es so etwas wie »Zukunft« nur mehr in persönlichen Zusammenhängen gibt, wie dass man nächsten Sommer wieder nach Dänemark will oder »in Zukunft« mehr Sport treiben. Was »die Zukunft bringt«, darüber hinaus und insgesamt, will kein Mensch mehr wissen, wie in der arretierten Merkelrepublik ein Begriff von Zukunft bloß in der Tautologie besteht, dass jene nicht die Vergangenheit (DDR) sei. Zukunft in den sechziger Jahren, das war so was wie Kolonien auf dem Mars und fliegende Autos für alle; Zukunft heute, das ist die Hoffnung auf das familientaugliche Militärfahrzeug (SUV) mit 800 Elektro-PS und das intelligente Lifestyle- Armband aus antiallergischem TPUGummi, das Schlafrhythmen und körperliche Aktivitäten erfasst und mosert, wenn man irgend etwas falsch macht. (Pardon, das gibt’s ja schon.)
Diesen aussichtslosen Zeit- als Endzeitverhältnissen korrespondiert sehr einleuchtend die bekannte Rückwärtsgewandtheit als Retromode, die abseits metropolitanen Hipstertums in der ubiquitären Vorliebe für Wolfshaut aus Kunstfaser Gestalt gewinnt, wenn Familienverbände noch am heiligen Sonntag so grau bis pink durch die Welt marschieren, als ginge diese tatsächlich jeden Moment unter und müsse die Möglichkeit, sich spontan in den Wald oder die Berge zu flüchten, unbedingt gewahrt bleiben. Ein Zurück zur Natur nicht als Rousseauscher Traum von Unschuld und Reinheit, sondern als Vorwegnahme der Apokalypse, die den Naturzustand noch etwas entschlossener wieder herstellt als unsere zwar willige, aber im Detail noch allzu gehemmte Leistungsdemokratie; die an der Kasse des Outdoorladens die zivilisatorischen Angebote von Vielfalt, Individualität und Distinktion aber schon mal entsorgen lässt, wenn die willig uniformen Kunden noch Geld dafür ausgeben, dass sie zu den freudlosen Funktionsträgern und spätestprotestantischen Robotern werden dürfen, als die sie die freidemokratische Grundordnung zu vernutzen gedenkt.
Dass Vergangenheit die neue Zukunft sei, erweist sich am permanenten pop- und alltagskulturellen Retourkutschieren, das die perspektivlose Gesellschaft, nach Schlagermove, »Mad Men« und Mittelaltermarkt, jetzt endlich dahin gebracht hat, wo sie sich dem Anschein nach ohnehin am wohlsten fühlt: in der Steinzeit. »Essen wie unsere Vorfahren« lautet der Slogan der jüngsten, geradezu ultimativen Regressionsbewegung, die als »Paläo-« bzw. »Paleo-Diät« nur Nahrungsmittel akzeptiert, die im Neandertal genauso auf den nicht vorhandenen Tisch gekommen wären, also statt Getreide, Milch, Hülsenfrüchten oder Zucker nur unbedingt »natürliche« und nämlich nicht erfundene, gezüchtete, (im Doppelsinn) raffinierte, denn noch das feinste Bioladenbrot ist ja Artefakt und mutmaßlich glutenverseucht; und was in der Altsteinzeit gut war, kann heute nicht schlecht sein, jedenfalls nach plump biologistischen, hierin sogar leis’ tautologischen Effizienzkriterien.
»Ich erkannte, dass es absolut notwendig war zu verstehen, wie sich unsere Vorfahren in ihrer natürlichen Umgebung ernährten«, trommelt der US-amerikanische Ernährungswissenschaftler und Trendbegründer Loren Cordain, »um zu erkennen, was die optimale moderne menschliche Ernährungsweise ist.« Nämlich die wiederum natürliche, weil Natur halt gut ist, sozusagen von Natur aus, und weil die jahrzehntausendealten Versuche, sich ihr und ihrer launenhaften, gewalttätigen, manche sagen: faschistischen Nonchalance zu entziehen, uns zwar mit Ziegeldächern, Zentralheizung, Penicillin und Pommes Schranke ausgestattet haben mögen, aber nur um den Preis von Diabetes, Gicht und metaphysischer Unbehaustheit, was im Neandertal halt alles unbekannt war. Man wurde ja, der glücklichen Naturumstände halber, auch gar nicht alt genug.
»Von der Biologie her würde ich erst mal sagen: Paleo macht Sinn«, zitiert die interessierte »FAZ« trotzdem den Paläoanthropologen Ottmar Kullmer von der Frankfurter Senckenberg-Gesellschaft. »Wir würden gut daran tun, uns an den Lebensmitteln zu orientieren, die die Menschen vor der neolithischen Revolution zur Verfügung hatten«, denn »unser Organismus hatte noch gar keine Zeit, sich auf die neuen Produkte umzustellen.« Und richtig: Meine Großmütter, beide bis über die 90 hinaus beweglich und klar im Kopf, hatten zeitlebens ihre liebe Not mit all den Butterbroten und Bratkartoffeln und sind deshalb zwar steinalt geworden, doch nicht ohne Darmverschluss und Behindertenausweis. Denn wo es freilich darum gehen könnte, »vernünftig« zu essen und um Foltermast, Nestlé und Erdbeeren im Januar einen Bogen zu schlagen, geht es bei Paläo, wie auch sonst, ums egozentrische »Optimum«, also darum, sich auf dieselbe Weise »perfekt« zu ernähren wie der athletische Jäger und sehnige Sammler vor 30.000 Jahren, für welche das Optimum allerdings erreicht gewesen sein dürfte, wenn sie satt wurden. Ein anderes Optimum kennt die Natur ja nicht, deren Geschöpfe halt nehmen, was sie kriegen, und weil das, was sie kriegen können, knapp werden kann, müssen Reviere verteidigt und kranke, schwache Tiere vom Raubwild recycelt werden, was derart optimal funktioniert, dass ein Gewährsmann wie A. Hitler von Natur als »grausamer Königin aller Weisheit« zu schwärmen nicht müde wurde. Und z. B. das Judentum für dessen Humanitas, als nämlich anmaßende, »›judenhaft freche‹ Ideologie der Naturüberlistung« (Carl Amery), sehr leidenschaftlich ablehnte.
Aber wir schweifen ab; denn Paläo-Fans schießen ihr Wild ja nicht selbst, holen ihre Früchte im Supermarkt wie alle anderen Weicheier auch und wählen wahrscheinlich signifikant öfter linksliberal als die indifferenten Allesfresser. Allerdings ist Paläo nicht nur durch und durch systemfreundlich, wenn die Kochbücher »Paleo-Power for Life« versprechen, die notorisch darin besteht, dass man »fit und schlank« werde, sondern erweist sich sein ideologisches Substrat, das Landwirtschaft für einen Irrweg hält, als im tiefsten Grund zivilisationsfeindlich, soweit Zivilisation mit Ackerbau und Viehzucht beginnt. Mit dem Gedanken nämlich daran, wie aus der beschwerlichen, passiven, den Gewalten durchaus ausgelieferten Rolle als Naturwesen durch Plan und Methode herauszufinden sei. (Und lieber instrumentelle Vernunft als gar keine.)
Das ist natürlich alles sehr von gestern, und wer merkt, dass die zivilisatorische Decke immer dünner wird (und die Gewalten und Götter wieder ganz die alten sind), der gewöhnt sich halt an den Gedanken, im Wald zu schlafen und das Überleben in die eigenen Hände zu nehmen. Steinzeitkapitalismus gewissermaßen; bloß dass es in der Steinzeit noch eine Zukunft gab.
Stefan Gärtner hat zuletzt zusammen mit Jürgen Roth das Pamphlet Benehmt euch! (DuMont) veröffentlicht