Von der Orientierungslosigkeit der Täterkinder. Von Ilse Bindseil
Mit seinen Kommentaren zu den Ereignissen von Charlottesville zog Donald Trump sich nicht nur die Kritik der Demokraten, sondern auch der eigenen Partei zu. Die bei Linken besonders wenig beliebten Republikaner Vater und Sohn George Bush äußerten ihren Abscheu gegenüber »ethnischer Eiferei, Antisemitismus und Hass in jeder Form« und erinnerten daran, dass, erstens, »alle Menschen gleich und mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet« sind und dass »wir« zweitens »wissen, dass diese Wahrheiten ewig währen«. Beide Statements mit ausdrücklichem Bezug auf Gott und Nation.
Mich erwischte die Debatte auf dem falschen Fuß: Mit meinem linken Dünkel staunte ich einerseits nicht schlecht über die Bushs, auf deren Urteilsfähigkeit ich während ihrer Präsidentschaft wie so viele andere nichts gegeben hatte. Würde ich das können, wenn ich rechts wäre: wissen, wo die Grenzen sind? Andererseits hatte ich bereits über Trump gestaunt, der, als sich in Charlottesville auf so beklemmende Weise seine Anhängerschaft materialisierte, das formale Schlupfloch gefunden hatte: Nicht nur seine Anhänger hatten Gewalt ausgeübt, sondern both sides, seine und die Seite derer, die ihn kritisierten. Das zugrundeliegende Kinderargument »Aber die andern auch« machte mir seinen Kommentar zusätzlich verblüffend unschuldig. Ich fragte mich, wie Trump in der Hitze der Auseinandersetzung das den Antagonisten Gemeinsame herausgefiltert hatte. War er doch ein Intellektueller? Oder ich nicht links?
Ich hatte mich gerade mit meinem Vater beschäftigt und war der Vergangenheit zugewandt. Insbesondere die Interventionen von jüdischer Seite auf Trumps Kommentar hin, die, aller Umarmungstaktik abhold, auf dem Ausschlusskriterium »keine Nazis« beharrten, brachten mir nicht nur den eigenen Mangel an einem festen Standpunkt, sondern auch die mögliche Entstehung dieses Mangels zu Bewusstsein. Ich schätzte – für meine Generation sicherlich typisch – Nihilismus, Ironie, Sarkasmus, Zynismus, rhetorische Mittel, die für sprachliche Souveränität und geistige Überlegenheit standen und gegenüber der finsteren Vergangenheit den nötigen Spielraum verschafften. Die Verachtung von Normen legte ich mir als einen radikalen Verzicht auf die angemaßte Herrschaft des Geistes über die Wirklichkeit aus. Einfach rausloofen lassen, das dem Sächsischen nachgesagte Prinzip der Gedankenverfertigung beim Reden, war für mich nicht nur der Inbegriff hirnlosen Losplapperns, sondern gleichzeitig das Gegenteil: eine auf dem Fundament der eigenen moralischen und geistigen Stärke zugelassene zensurfreie Wahrnehmung der Realität, so, wie sie ist.
Eine merkwürdige Orientierungslosigkeit lauert hinter meinen festen Standpunkten. Meine Bewunderung für den formalen Trick, mit dem Trump die Schuld an den Gewalttätigkeiten von Charlottesville auf beide Schultern verteilte und dazu noch seiner Überzeugung Rechnung trug, dass jede Untat von Rechten auf eine Provokation von Linken zurückgeht, ist durchaus befremdlich. Aber nicht befremdlicher als meine tiefe Verwunderung über die Republikaner sowie die Mitglieder der jüdischen Community, die nicht einen Moment brauchten, um in dem scheinbar ausgewogenen und um Ausgleich bemühten both einen Angriff des Präsidenten auf die amerikanische Verfassung, ja auf ihre eigenen Lebensgrundlagen zu erkennen. Wie hatten sie das geschafft? Schlauer gefragt: Warum erschien mir das Selbstverständliche als eine erstaunliche Leistung? Musste man ein jüdischer Überlebender aus Deutschland sein, um zu wissen, dass man unter keinen Umständen mit Nazis auf eine Seite geraten durfte? War der Preis für eine sichere Orientierung wirklich so hoch? Mir, ebenfalls aus Deutschland, leuchtete das unmittelbar ein.
Ich bin der Überzeugung, dass meine Orientierungslosigkeit Resultat der, wie man es gern nennt, Verwerfungen der Nazi-Zeit ist. Dazu passt, dass diese nur vermittelt auf mich gekommen sind. Wesentlicher Bestandteil nicht nur einer entpolitisierten Gesellschaft, sondern auch der persönlichen Verdrängungsgeschichte der Menschen, unter denen ich aufwuchs, sind sie Teil meiner selbst geworden, ohne dass ich mich zu ihnen verhalten konnte. Das bin nicht ich, kann ich zwar sagen und mich, Jahrgang 45, auf meine glückliche Geburt berufen, aber ebenso: Die werde ich nie los. Wäre ich Psychologin oder Ethnologin, würde ich diesen Mangel vermutlich auf das Flüchtlingsschicksal meiner Familie zurückführen und dabei weniger auf die geografische Entwurzelung als auf den sekundären Zusammenhalt der räumlich und ideologisch in eine archaische Sippe zurückverwandelten Familie mit mehreren Kommandozentralen abheben, von denen die eine hü sagte und die andere hott – eine hübsche Erklärung. Mein Interesse geht in eine andere Richtung, und das hat damit zu tun, dass gegenwärtig nicht nur die letzten Zeugen der gestrigen Untaten sterben, sondern auch die letzten Täter. Nicht nur winkt, wie die allseitige Bewunderung der deutschen Vergangenheitsbewältigung glauben machen will, endlich Bewältigung, sondern manches Verborgene und Beschwiegene, manches absolut Unverdauliche kommt überhaupt erst ans Licht. Es kann, weil es ja nun vorbei und endgültig Geschichte ist, im privaten Gespräch erörtert werden und ist: wie von heute.
Fatal für die Bildung einer inneren Ausrichtung scheint mir die Tatsache gewesen zu sein, dass die Bezugspersonen meiner Generation, Eltern, Lehrer, Bürgermeister, die Ikonen jeder noch so kleinen Kommune, nahezu sämtlich eine bürgerliche und nazistische Doppelbiografie hatten, was ihnen gar nicht bewusst war, auf uns Kinder aber eine verstörende Wirkung haben musste, machten wir im Umgang mit ihnen doch Erfahrungen von Verlässlichkeit und Güte, von dialektal gefärbtem Humor und einer unermüdlichen Spaßhaftigkeit und himmelten stets die falschen Leute an. Dabei suggeriert die gängige Empörungsformel über Nazis, die »als unbescholtene Bürger unter uns lebten«, es hätte zwischen ihnen und den unbescholtenen Bürgern ein wesensmäßiger und nicht bloß scheinbarer Unterschied existiert, welch letzterer sich auf die triste Formel reduzieren lässt: der unbescholtene Bürger vor und nach seiner Entlarvung. Sondern zur Zweideutigkeit tritt eben der Zeitfaktor hinzu: dass die bösen in unserer biografi schen Erfahrung zuerst gute Menschen waren, wie gesagt Väter, Vorbilder und so weiter, so dass später nicht nur unsere abstrakte Urteilsfähigkeit und handfeste Erfahrung, sondern auch die Sache selber in Zweifel geriet. Wenn die, die wir tatsächlich als gut erlebt hatten, böse waren, was war dann überhaupt gut?
Dass unsere unbefangene Wahrnehmung herzlich wenig ausgesagt hat darüber, wie die Dinge wirklich lagen, ist das eine. Das andere die Dynamik, die in dem nur scheinbar abgeschlossenen Prozess steckt. Nicht nur war alles ganz anders als von uns Kindern gedacht. Es konnte auch immer noch ganz anderes herauskommen. Lachen muss ich, wenn ich an meine kindlichen Gewissenserforschungsexzesse denke, daran, wie ich sie als psychisches Desaster erlebt und später allein aufs Konto der katholischen Kirche verbucht habe, der Ärmsten! Eins zu eins bilden sie die Lebenslüge der Bundesrepublik ab, die, da neu, so unschuldig war wie ein neugeborenes Kind. Die Fragen aus dem Kinder-Katechismus − Habe ich etwas Böses getan in Gedanken, Worten und Werken? − hatten für mich immer schon einen speziellen Dreh. Nicht: Was habe ich getan? Sondern: Habe ich oder habe ich nicht? Wird das mir noch heute unbekannte Böse im Zuge der Gewissenserforschung ans Licht kommen? Wird es sich offenbaren? Wird mir dann klarwerden, dass ich es bloß verleugnet habe? Hinter der moralischen Erkundigung brachte sich ein grundlegender Zweifel in Stellung. Ich wusste: Je weniger schuldig ich mich fühlte, desto übler würde die Überraschung sein. Sie würde Grenzen sprengen.
Die Konjunktur der Psychologie nach dem Krieg hat mir vermittelt, dass die schlimmsten Zustände nur im Kopf existieren. Wird man sich dessen bewusst, ist man sie los – eine fröhliche Aussicht. Umso verwunderter war ich, wenn ich bei so vielen Einbildungen dann doch mit Tatsachen konfrontiert wurde. Hatte mein grüblerischer Vater, der meine Lust am Denken am meisten gefördert hat, nicht wenige Jahre vor seinem Tod zu mir gesagt, in der Kleinstadt, in der wir schließlich gelandet waren, habe es »damals« eine regelrechte Hexenjagd gegeben? Der Satz brach aus ihm förmlich heraus. Ein erratischer Satz, ein denkwürdiger Satz. Und eine befremdliche Umschreibung der Judenverfolgung, dachte ich und begriff erst im Nachhall, dass er natürlich die Nazis meinte. Es waren Leute, die ihm, einmal Flüchtling, immer Flüchtling, nicht einmal besonders nahestanden. Aber vermutlich Mitläufer wie er, vor allem eben unbescholtene Bürger. Nazi – hier kamen Wahrheit und Schönrednerei auf beklemmende Weise zusammen − war nur eine zeitweise Erscheinungsform des Bürgers gewesen. In der Nazi-Zeit war man als unbescholtener Bürger Nazi. Diese Zeit war vorbei.
Ich plädiere nicht für Biografieforschung. Auch wenn man nicht Frank heißt (Dietrich Kuhlbrodts Filmrezension in konkret 9/17 zu »What our Fathers did« mit Niklas Frank, Sohn des »Judenschlächters von Krakau«), kommt die Wahrheit von selbst ans Licht, genug davon jedenfalls, um unsere Selbstgewissheit zu erschüttern, und wenn nicht unsere, dann die unserer Enkel, die womöglich immer noch Frank heißen. Nicht mit Einsicht, Reue und der Fähigkeit, es künftig besser zu richten, hat uns der Holocaust zurückgelassen – und mitnichten ist dies sein innerster Zweck −, sondern mit einem im Kern zerrütteten moralischen Bewusstsein, das, ständig um Wiederherstellung seiner selbst bemüht, in der Konfrontation mit der Welt ein merkwürdiges Bild abgibt, weil ihm alles Mögliche, nur nicht seine Zerrüttung ins Auge fällt.
Ilse Bindseils Erinnerungen an ihren Vater erscheinen unter dem Titel »Wenn die Hose brummt« im kommenden Heft der »Phase 2« über Angst