Interview mit dem Soziologen Stephan Lessenich über sein Buch Neben uns die Sintflut und Bumerang- Effekte, die entstehen, wenn reiche Gesellschaften die Folgen ihrer Lebensweise in arme Länder auslagern
konkret : Sie schreiben: »Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse der anderen.« Wer sind wir, wer sind die anderen?
Stephan Lessenich: Zugegeben, das ist natürlich arg pauschal ausgedrückt. In dieser Formulierung jedenfalls sind »wir« die reichen kapitalistischen Gesellschaften des globalen Nordens, die »anderen« sind große Bevölkerungsmehrheiten in den armen Ländern des globalen Südens. Die Idee dahinter ist, dass sich in unserer Gesellschaft Arbeits-, Produktions- und Lebensweisen etabliert haben, die darauf beruhen, dass in anderen Welten Vor- und Zuarbeiten beziehungsweise entsprechende Vorleistungen dafür erbracht werden müssen.
Dass wir unseren Wohlstand vergrößern, indem wir ihn anderen vorenthalten und ihnen noch unsere ausgelagerten Wohlstandskosten aufbrummen, haben Sie auf den Begriff der Externalisierungsgesellschaft gebracht. Das Wort klingt ein bisschen nach hipper Zeitdiagnostik, so wie Müdigkeitsgesellschaft, Wissens-, Erlebnis- oder Risikogesellschaft. Dabei ist Externalisierung ein ziemlich alter Hut, oder?
Das freut mich, dass Sie den Begriff hip finden, die meisten finden ihn nämlich zu sperrig. Aber, klar, Externalisierungsgesellschaft ist eine Globaldiagnose, so wie die anderen Bindestrichgesellschaftstypen auch, und in der Tat ist Externalisierung ein alter Hut. Seit es den Kapitalismus ansatzweise in Form des globalen Weltsystems gibt, etwa seit 500 Jahren, operiert er im Modus der Auslagerung von Kosten, der Aneignung von Gewinnen, der Ausbeutung Dritter. Aber diese Struktur der Externalisierung hat sich in den letzten Jahrzehnten noch einmal stark verändert: Der frühe Kapitalismus hat diese Auslagerungspraktiken noch stark über Gewalt organisiert; spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg sind diese Ausbeutungskosten- Auslagerungsstrukturen deutlich verrechtlicht worden.
Haben Sie, auch auf die Gefahr hin, den aufgeklärten konkret -Leser zu langweilen, ein oder zwei in ihrer menschenverachtenden Drastik typische Beispiele für globales Externalisierungshandeln?
Dieses Auslagerungshandeln hat verschiedene Dimensionen. Beispielsweise wird »schlechte« Arbeit ausgelagert. Wir kennen das aus der Textilproduktion. Aber auch viele Varianten von landwirtschaftlicher Produktion oder Rohstofförderung sind verbunden mit sehr, sehr schlechten Arbeitsbedingungen. Verbunden damit ist wiederum die Auslagerung von ökologischen und Gesundheitsschädigungen. Die monokulturelle Landwirtschaft, die in weiten Teilen der Welt für den europäischen Verbrauch betrieben wird, hat einen massiven Pestizid- und Herbizideinsatz, massive Verwerfungen der lokalen Ökonomien und massive Verdrängungen der Menschen aus den ländlichen Räumen zur Folge. Vieles gilt natürlich auch für die Rohstoffförderung oder die Textilproduktion, wo es etwa zu starken Umweltschädigungen vor Ort kommt. Ausgelagert wird, kurz gesagt, all das, das wir in keiner Weise bei uns zu akzeptieren bereit wären.
Auf die großen Unternehmen oder Versäumnisse staatlichen Verwaltungshandelns allein lässt sich die Schuld aber kaum abwälzen. Schließlich leben wir sehr gut mit all den billigen Rohstoffen und schönen Waren, die der globale Kapitalismus auf dem Rücken anderer hervorbringt. Weshalb können wir trotzdem so gut schlafen?
Weil wir die Folgekosten unserer Produktions- und Lebensweise nicht wahrnehmen müssen. Wir können sie ausblenden, müssen sie nicht an uns heranlassen. Sie werden von niemandem direkt an uns herangetragen, wir sind mit den Folgeschäden nicht direkt konfrontiert, sind also auch nicht gezwungen, unsere Verhaltensweisen zu ändern. Bei diesem Ausblendenkönnen handelt es sich um eine große Machtressource.
Wir können es uns also leisten, dass es uns rechts und links am Arsch vorbeigeht.
Ja, denn es macht uns niemand dafür haftbar, vielleicht ab und an moralisch, und besonders gern zu Weihnachten. Dann geben wir halt ein bisschen mehr in die Kollekte. Ich nenne es den Externalisierungshabitus, dass es uns gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen ist, so zu leben, wie wir leben, dass wir uns in Strukturen befinden, die uns das ermöglichen und es uns teilweise auch nahelegen oder sogar erzwingen: Man kann nämlich nicht einfach so konsumieren, wie man will, und nicht jeder kann sich frei entscheiden, ethischen Konsum zu betreiben.
Hier und dort gab es auch ein paar Einwände gegen Ihr Buch. Etwa sei Ihnen entgangen, dass sich die Lage der Schwachen in den westlichen Industrienationen relativ verschlechtere, während sich bei neuen Teilnehmerländern im großen Weltmarktspiel eine neue Mittelklasse bilde und sich auch die Lage der Ärmsten verbessere, so die Rezensentin der »Zeit«.
Das ist mir keineswegs entgangen. Mit dem Buch versuche ich, eine Perspektive stark zu machen, die in Ungleichheitsdebatten unterbelichtet ist. Wir haben gerade, völlig zu Recht, eine Debatte über innergesellschaftliche Ungleichheiten, über die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Diese Debatte verkompliziert sich aber, wenn man die weltgesellschaftlichen Ungleichheiten miteinbezieht. Dann wird man nämlich sehen, dass gerade die Menschen, die in unserer Gesellschaft schlechter gestellt sind, in einer doppeldeutigen Position sind, denn weltgesellschaftlich gesehen leben sie auf einem Reproduktionsniveau, das das von weiten Teilen der Gesellschaft erheblich überschreitet. Außerdem sind sie eben »gefangen « in Strukturen, über die sie von den Ausbeutungsverhältnissen in der Welt profitieren. Ich finde es nun wichtig, beide Dimensionen zusammenzubringen und davon auszugehen, dass sie sich gegenseitig überlagern und entsprechende Debatten auch verkomplizieren. Es ist eben nicht damit getan, dass wir hierzulande zu einer Angleichung von Lebenslagen kommen, und dann wäre wieder alles in Ordnung, sondern wir müssen sehen, dass unser Reproduktionsniveau damit zusammenhängt, dass andere dieses Niveau gar nicht erreichen können.
Sanft nach unten getröpfelt, wie immer wieder mal prognostiziert wird, ist der Reichtum der reichen Länder bis heute jedenfalls nicht.
Nein. Es gibt von einigen Ökonomen die These, dass sich einerseits die innergesellschaftlichen Ungleichheiten verschärfen würden, sich andererseits zwischen den Ländern des globalen Nordens und denen des Südens die Einkommensschere langsam schließen würde. In den letzten 15 Jahren hat sich in der Tat das Ungleichheitsniveau weltweit zwischen den armen und reichen Gesellschaften etwas verkleinert – aber auf einem Niveau, wo die Unterschiede zwischen den ärmsten und reichsten Nationen des Globus immer noch deutlich größer sind als die innergesellschaftlichen Unterschiede der ungleichsten Gesellschaft dieser Welt.
Vermutlich hätten Sie größere Teile des Buches auch schon vor ein paar Jahren schreiben können. Und doch hat sich die Lage zuletzt zugespitzt. Sie schreiben: »Die Externalisierung kommt zu uns nach Hause, sie schlägt zurück.«
Schon Ulrich Beck hat in seinem Klassiker Risikogesellschaft 1986 von »Bumerang-Effekten« gesprochen, etwa in Bezug auf den Klimawandel, der heute noch viel stärker spürbar ist. Gerade die Migrationsgeschehnisse der letzten anderthalb Jahre sind ein greifbares Zeichen dafür, dass die Verwerfungen, die von hier aus anderswo produziert werden, zunehmend auch auf uns zurückschlagen. Die Zeiten ändern sich, und der Luxus, die Konsequenzen irgendwo anders geschehen zu lassen und hier nichts damit zu tun zu haben, ist langsam vorbei. Leider führt das dazu, dass wir immer gewaltsamer versuchen, dieses Zurückschlagen zu verhindern oder uns davon frei zu machen.
Sie zitieren in diesem Zusammenhang den Weltsystemforscher Immanuel Wallerstein, der schrieb, die Normalität der Externalisierung sei zu einer Kindheitserinnerung verblasst. Ich bin mir da nicht ganz so sicher, zumal sich die Grenzen dessen, was Normalität heißt, ja auch verschieben können, wie Sie eben selbst angedeutet haben. Und ausreichend viele Riesenschlupflöcher für die großen Unternehmen wird es doch wohl auch in Zukunft noch geben. Dazu verstärkte alte und neue Grenzzäune, mehr monetäre oder andere Zuwendungen für diejenigen, die einem fürs schützenswerte Nationalstaatsgebilde die Drecksarbeit abnehmen, ein paar Tausend Tote mehr selbstredend miteingerechnet. Auch das wäre ja eine Form von Normalität, und außerdem noch enorm steigerungsfähig in ihrer Brutalität, wenn die Panik in den reichen Ländern erst groß genug ist.
Das stimmt leider, das ist eine Möglichkeit. Wir stehen da an einer Weggabelung, und eine Variante wäre ebendie Entwicklung zu einem im weiteren Sinne autoritären Kapitalismus. Wir erleben derzeit nicht gerade kleine Bevölkerungsmilieus, die sich für so eine Option entscheiden, weil sie die bekannte Auslagerungspraxis gern so fortführen würden, da sie davon profitieren und von den Vorteilen nicht ohne weiteres lassen wollen. Ich fürchte ebenfalls, dass die Praktiken, die Sie genannt haben, mit sichtbarer Gewaltsamkeit verbunden sein werden. Da stellt sich in einer einstweilen noch demokratisch verfassten Gesellschaft die Frage, wie hoch die Schmerzgrenze ist. Wie viele Tausend Menschen im Mittelmeer ertrinken können, bis sich hierzulande Widerstand regt.
Die Schmerzgrenze ist bereits hoch.
Ja, aber man muss wohl davon ausgehen, dass die Reflexe der Abschottung, Abwehr und Ausblendung noch massiv verstärkt werden können. Vermutlich wird man sich auch mit einem deutlich erhöhten Maß physischer Gewalt, die damit verbunden sein müsste, abfinden beziehungsweise anfreunden, wenn man als Gegenleistung die Fortführung der bisherigen Lebensverhältnisse erwarten darf.
Was müsste denn nun geschehen, um die Externalisierungen einzudämmen?
Wir müssen für eine Politisierung der alltäglichen Lebensverhältnisse sorgen. Weil es so ist, dass wir in unserem Alltagshandeln diese Externalisierungen mitproduzieren und auch davon profitieren, kann eine Veränderung nur darüber laufen, dass breite gesellschaftliche Mehrheiten ihr Verhalten verändern, und zwar nicht nur im Sinne von ethischem Konsum, weniger Reisen und weniger Fleisch essen, sondern in dem Sinne, dass sich Mehrheiten dafür einsetzen, die Strukturen, die diese Konstellation tragen, zu verändern.
Um die übermächtige Maschinerie eines auf nichts als Gewinnmaximierung ausgerichteten globalen Kapitalismus aufzuhalten, kommt man um einen Systemwechsel nicht herum.
Das stimmt.
Nur schreiben Sie das nicht. Obwohl das ganze Buch mit seiner durchaus deutlichen Kapitalismuskritik im Grunde darauf hinausläuft, dass Sie am Ende dafür plädieren müssten. Genau das tun Sie nicht. Sie setzen dann doch wieder auf »demokratische Prozesse « und ein paar Reformen, Diskussionen und Bewusstseinsbildung. Aber damit ist doch nichts gegen dieses Wertproduktionsmonster namens globaler Kapitalismus auszurichten.
Da haben Sie Recht. Aber die Frage wäre schon, ob das Ganze entlang einer katastrophischen Zuspitzung und einer daran anschließenden Revolutionierung der Verhältnisse über gewaltsame Auseinandersetzungen passieren sollte. Ich würde eher sagen, dass es radikaler Veränderungen, radikaler Reformen bedarf sowie eines Systemwandels im Sinne einer anderen Art des Produzierens und Konsumierens. Und ich würde dafür plädieren, dass wir eine demokratische Auseinandersetzung darüber führen, wer von diesen Verhältnissen, in denen wir gegenwärtig leben, mehr, weniger oder überhaupt nicht profitiert und wer die Schäden zu tragen hat. Das sind ja häufig recht uneindeutige Positionen. Um eine Demokratisierung der Verhältnisse kommen wir erst mal nicht herum, um all diese Fragen überhaupt stellen zu können. Zumal ich derzeit gar keine revolutionäre Kraft in diesem Land sehe.
Interview: Michael Saager
Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Hanser Berlin, Berlin 2016, 224 Seiten, 20 Euro