Manfred Sohn über die jüngste Marx-Erledigung durch die »Zeit«
In den Wechselreigen der Marx-Erlediger hat sich Ende Januar die Hamburger »Zeit« eingereiht. Sie lässt Marx’ »radikalen Liberalismus« hochleben. Mit dem markanten, rot hinterlegten Gelehrtenkopf machte das Blatt auf und widmet Marx gleich sechs Druckseiten – Reklame, die dem Verkauf der Ware Zeitung dient, mitgerechnet.
»Er ist wieder da«, ist der zentrale Artikel überschrieben, der die üblichen Verbeugungen vor der prophetischen Kraft des Denkers, der im nächsten Jahr seinen 200. Geburtstag gefeiert hätte, absolviert und der nach einigen Kurven dort landet, wo solche Artikel immer landen: »Denn bei aller neuen Begeisterung für Marx: Die Geschichte lehrt, dass sein Traum vom Umsturz der Verhältnisse in der Wirklichkeit katastrophal endete. Für die Arbeiterklasse ist es meist schlecht ausgegangen, wenn sie die Revolution herbeiführte … Auch in China mussten die Arbeiter zunächst einmal schwer leiden und millionenfach mit ihrem Leben bezahlten, bevor dem Markt die Tore geöffnet wurden.« Der »steuernde Staat« werde es schon richten, nur müsse sich zur Zeit »die Welt … anstrengen, um weiterhin Marx, den Revolutionsprognostiker, Lügen zu strafen«.
Einen »Exkommunisten« hat die Redaktion alle Bände des Kapital für eine Seite Gebrauchsanweisung neu lesen lassen, wie »Sie durchs Kapital kommen« – mit dem öden Schluss, dass darüber die Geschichte hinweggegangen sei. Warum, fragt sich der Leser, sechs Seiten für etwas so Erledigtes? Der Kerl beziehungsweise seine Erkenntnisse müssen sehr lebendig sein angesichts der weiteren Werkzeuge, die die »Zeit« anschleppt, um den Leichnam wirklich unter die Erde zu bringen. Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, der zugibt, nach dem ersten Band die Kapital-Lektüre aufgegeben zu haben, weil es »schwer zu lesen« sei, ist überzeugt: »Marx hätte Ceta gewollt«; Professor Hans-Werner Sinn, ausgerechnet, befürchtet, dass die nach seinem Dafürhalten falsche Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate dennoch ihre Richtigkeit beweisen könne – wegen der falschen Praxis der europäischen Zentralbanken, die die reinigende »Marxsche Entwertungskrise« verhindern würde. Und der Thomas Piketty hat natürlich »Marx bis zum Ende gelesen«, empfand aber »sein Werk als konfus und schmerzvoll zu lesen. Es ist viel zu theoretisch …«. Die schmerzfreie Lösung: Pikettys Das Kapital im 21. Jahrhundert – denn: »Ich glaube, mein Buch lässt sich besser lesen!« Yanis Varoufakis schließlich, der seit seinem rasanten Abgang als griechischer Finanzminister keine Gelegenheit auslässt, um sich, je nach dem, wer ihn um eine Stellungnahme bittet, wohlfeil zu positionieren, entdeckt für das liberale Blatt »Marx’ radikalen Liberalismus«, den viele Marxisten übersehen hätten.
Zwei Beiträge fallen aus diesem Rahmen. Zum einen bringt ein »Zeit«-Mitarbeiter unter der Überschrift »Wo sind sie geblieben?« eine wenigstens streckenweise gut recherchierte Beschreibung der gravierenden Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution, die aus den selbstbewussten und streikfähigen Arbeitern des 20. Jahrhunderts Lohnabhängige gemacht habe, die »um schlechte Jobs betteln« müssen. Hätte wenigstens er neuere, an Marx geschulte Theoretiker wie Robert Kurz gelesen, es hätte sich die Möglichkeit ergeben, die Leitfrage des Wochenblatts »Hatte Marx doch recht?« mit einem begründeten Ja zu beantworten.
Der zweite lesenswerte Beitrag umfasst nur acht Druckzeilen und stammt von einer Münsteraner Studentin, die darauf hinweist, dass die Professoren Marx weiterhin ignorieren und sie ohne »Lesekreis … keine Zeile von Marx« kennen würde. Um das kapitalistische Wirtschaftssystem fundiert kritisieren zu können, sei diese Lektüre aber wichtig. »Das Original lesen« – am besten in der Gruppe – ist denn auch die einzig vernünftige Schlussfolgerung aus dem Aufwand, den die »Zeit« getrieben hat, genau das zu verhindern.
Manfred Sohn
Manfred Sohn war bis 2015 Mitglied des niedersächsischen Landesverbands der Partei Die Linke und dessen Vorsitzender. Der Autor bereitet die Veröffentlichung eines Buches über den aufhaltsamen Aufstieg der AfD vor, das demnächst in der konkret texte-Reihe erscheinen wird.