Der Dokumentarfilm »Ein deutsches Leben« gibt Goebbels’ Sekretärin eine Stimme, die nicht als Reaktion auf eine Anklage erscheinen muss.
Von Georg Seeßlen
Es gibt im deutschen Dokumentarfilm im allgemeinen und in dem zur Geschichte des »Dritten Reichs« im besonderen eine begreifliche Abneigung gegen das Fernsehfeaturehafte und das Guido-Knopp- Historytainment. Das hat zu einer eigenartigen, spröden Erzählweise mit zwei Extremen geführt: Zum einen der Verzicht auf jegliche Form von Kommentar: Bilder und vor allem Menschen sollen für sich selbst sprechen, und die Bewertung ist dem Zuschauer überlassen. Zum zweiten eine – soll man sagen: verzweifelte – biografische Anwesenheit der Autoren im Film, die Reflexion ihrer Schwierigkeiten beim Finden der Wirklichkeit, ihre persönliche Verstrickung, oft, etwa in Malte Ludins »Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß«, in Zusammenhang mit der eigenen Familiengeschichte, manchmal auch, wie in Ray Müllers Leni-Riefenstahl- Porträt »Die Macht der Bilder«, in der Dokumentation des Widerstands, das der Gegenstand dem Filmer entgegensetzt.
»Ein deutsches Leben« gehorcht auf exemplarische Weise dem ersten Modell. Weder gibt es einen allwissenden Erzähler noch einen Stellvertreter des Publikums. Was es gibt, ist die Person, um die es geht, Brunhilde Pomsel, die einst Joseph Goebbels’ Sekretärin war, und gegen die Erzählung ihrer Lebensgeschichte geschnittene Zeitdokumente, Zitate, Reden, Filmschnipsel.
Die österreichische Produktionsfirma Blackbox hat den Film mit vier Regisseuren realisiert. Schon die Anzahl der Autoren, Roland Schrotthofer, Olaf S. Müller, Christian Krönes und Florian Weigensamer, weist darauf hin, dass es nicht um eine persönliche Auseinandersetzung, sondern um die Anwendung einer Methode geht. Und in der Tat ist in diesem Film keine Schlampigkeit, keine Gedankenlosigkeit und keine Effekthascherei zu beobachten, jeder Schnitt, jede Wahl des Materials, jede Reduktion, vom strikten Schwarzweiß der Interviewaufnahmen bis zur Entscheidung, Goebbels selbst nie in einer seiner dramatischen, audiovisuellen Inszenierungen auftreten zu lassen, sondern nur in der Form von Textzitaten oder akustischen Dokumentationen vor schwarzer Leinwand, ist reflektiert und kontrolliert.
Was schnurstracks zum Problem dieser Methode führt: Sie erzeugt gleichsam einen semantischen Innendruck. Das heißt, da ich keinen Kommentar der Autoren erhalte, keine Bewertung und keine eindeutige Haltung, konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die zweite, eben die cineastische Bedeutungsebene. Ich frage mich bei allem, was die Autoren mir damit sagen wollen, zum Beispiel, wenn sie das zweifellos fotogene Faltenreich von Pomsels Gesicht mit der Kamera noch einmal zerlegen oder expressive Untersichten wählen – wo doch auch in einer respektablen Halbnah-Einstellung sehr deutlich wird, dass die Gestik der 104jährigen, höchst regen Protagonistin oft ihren Worten widerspricht. Man erkennt, dass das historische Material, das in die Interviewaufnahmen geschnitten ist, nie bloß argumentativ oder gar illustrativ verwendet wird, sondern eine Spannung zwischen den beiden Erzählebenen erzeugt, die erst durch die Mitarbeit des Zuschauers mit Bedeutung belegt wird. Man beginnt, auf die kleinen Brüche zu achten, etwa wenn doch einmal, in der offensichtlichen Reaktion auf eine Nachfrage, die Anwesenheit der Filmemacher deutlich wird. Kurzum: Die Form wird mit einer diskursiven Verantwortung aufgeladen, die sie nicht immer tragen kann. So entsteht beim Versuch, der Falle der Geschwätzigkeit und der Ermächtigung zu entgehen, die Falle der Evidenz. Und wenn mich der Geschwätz-Dokumentarfilm entmündigt, dann tendiert der Anti-Kommentar-Dokumentarfilm dazu, mich in einem Labyrinth der Bedeutungsebenen allein zu lassen. Machen Sie die Probe aufs Exempel: Versuchen Sie, mit jemandem darüber zu sprechen, was dieser Film eigentlich sagt.
Nicht, dass diese Offenheit nicht auch sympathisch und anregend wäre. Wir sehen ja dabei zu, wie ein Mensch, der sich offensichtlich eine Maske für die Biografie zugelegt hat, sie an manchen Stellen und meistens, ohne es recht zu wissen, lüftet. Die Maske, das ist das gewohnte »Man hat ja nichts gewusst«, die heroische, glänzende Oberfläche des Systems, der Hinweis auf die Erziehung, der Kampf ums Überleben, die beiden Teileingeständnisse: Man war zu naiv, zu »unpolitisch «, und man war zum Helden nicht geboren. Und da verwandelt sich die Maske auch in den Spiegel: Wer von denen, die ihrer Generation das moralische Versagen in der Hitlerei vorwirft, könnte denn von sich behaupten, er oder sie würde Mut und Kraft aufbringen, Widerstand zu leisten? Selbst Brunhilde Pomsels Empörung kann man bis zu einem gewissen Grad teilen: Fünf Jahre war sie in sowjetischer Gefangenschaft, während andere, »wirkliche« Täter gleich wieder in Amt und Würden waren.
Doch wo sich die Maske einen Spaltbreit lüftet, wo sich in der Erzählung und im Selbstbildnis ein Widerspruch auftut, wo sie verstummt (ein Element, dessen Wirkung die Filmemacher offenbar so genau erkennen, dass sie es kompositorisch verwenden), wo sich Skepsis gegenüber der eigenen Rede ausdrückt, da zeigt sich der größte Vorzug dieses Films, dass er an einem Menschen, nicht an einer Repräsentation, zeigt, wie moralische Autobiografie funktioniert und wie manchmal nicht.
Der Titel erinnert, ob bewusst oder nicht, an einen anderen emblematischen Film zur deutschen Vergangenheit, an Theodor Kotullas »Aus einem deutschen Leben«, in dem Götz George, ganz Repräsentation und Metapher, einen jungen KZ-Kommandanten spielt, dessen Haltung sich in dem Satz zusammenfasst: »Es ist mir physisch unmöglich, einem Befehl nicht zu gehorchen.« Das »deutsche Leben« dieser Zeit wird an dieser Figur vorgeführt und in seiner Familie gespiegelt.
»Ein deutsches Leben« dagegen behauptet solche metaphorische Gültigkeit ganz und gar nicht, es ist ein Leben unter vielen, und die Konstanten muss man sich dazudenken. Auch hier gibt es einen Schlüsselsatz: »Nichts haben wir gewusst, es ist alles schön verschwiegen worden, und das hat funktioniert. « Das Pendant zum George-Satz ist dabei die Erinnerung daran, dass Goebbels, der Chef, ihr eine Akte zur Einordnung übergeben habe mit der Aufforderung, keinen Blick in sie zu werfen. Und Brunhilde scheint zur Zeit der Aufnahme – Anfang 2017 starb sie mit 106 Jahren – immer noch stolz zu sein, dass sie diesem Befehl gehorcht hat. Was hier Episode scheint, eine sonderbare Verspiegelung der Strategie des Nichtwissens, ließe sich leicht zur großen dramaturgischen Metapher ausbauen. Dass der Film so etwas nicht tut, ist sein Verdienst; seine humanistische Grundhaltung zeigt sich eben darin, dass die Protagonistin zu nichts missbraucht wird, auch nicht zu einem Erkenntnisgewinn, der über die Konstruktion einer Nähe hinausgeht, in der man nicht mehr alles umfassend verbergen kann. Und in dieser Nähe kann uns nicht verborgen bleiben: Diese Frau ist viel zu klug, um nichts gewusst zu haben.
»Ein deutsches Leben« ist gleichsam ein Spätwerk im Genre oral history on film und unternimmt etwas, das vorher als Tabu erschien, nämlich den Vertretern der Täterseite eine Stimme zu geben, die nicht als Reaktion auf eine Anklage erscheinen muss. Aus den zwei Wochen dauernden Interviews mit der in einem Münchner Altersheim lebenden Pomsel ist ein Textbild entstanden, das sozusagen programmatisch darauf verzichtet, Druck auszuüben. Weder scheinen die Filmemacher besonderen Druck auf die Protagonistin ausgeübt zu haben, was gewiss auch Pomsels Intelligenz und Kooperation zu verdanken ist, noch übt der Film irgendeine besondere Form von Druck auf den Zuschauer aus. Die Frage ist nicht, ob das gut oder schlecht ist, die Frage ist, ob diese Entspanntheit und Sympathie die eine oder andere Tür öffnen könnte, die sonst verschlossen bliebe. Es ist ganz offensichtlich nicht mehr die Generation der Söhne und Töchter, die hier fragt und zuhört, sondern die Enkelgeneration, die es ihrerseits nicht mehr nötig hat, sich militant aus dem Schatten der (familiären) Vergangenheit zu lösen. Diesem Enkelblick, das macht ihn zunächst so zugänglich, fehlt die historisch und psychologisch bedingte Selbstgerechtigkeit der Älteren. So führen die Nachgeborenen, stellvertretend sozusagen, nachholend und im Angesicht des Verschwindens der Zeitzeugen, ein Generationengespräch, das vordem nicht möglich war.
Der Preis dafür freilich ist hoch: Es kommt nicht mehr viel dabei heraus. Was echte »Faszination«, was Opportunismus, was Naivität und was Einverständnis war, es ist auch an der Figur dieses Joseph Goebbels und der Frau im engsten Kreise seiner Macht nicht mehr herauszufinden. Auch hier ergeben sich in der Erinnerung erstaunliche Widersprüche. Brunhilde Pomsel war mit ihren Kolleginnen bei der berüchtigten Rede zum »totalen Krieg« zugegen, und immer noch ratlos berichtet sie, wie es Goebbels schaffte, diese Menschen in einen Rausch zu versetzen, von denen die Mehrheit gerade noch wusste, dass die Weiterführung des Kriegs so sinnlos wie verbrecherisch war. »Er wusste es wahrscheinlich selber nicht«, sagt sie. So verschwimmen uns die Subjekte, und beinahe könnte man von einer Foucaultschen Auflösung der faschistischen Macht träumen. Doch auf der Mikroebene der Erinnerung hat die Episode einen ganz anderen Gehalt, da nämlich will Pomsel zusammen mit ihren offenbar ebenso skeptischen Kolleginnen von einem SS-Mann quasi zum Beifall gezwungen worden sein. Rausch, Inszenierung, Zwang vermengen sich, vielleicht nicht nur in der Erinnerung. Ein Spätwerk der oral history on film ist »Ein deutsches Leben« also auch deshalb, weil er an die Grenzen dieser cineastischen Narrative führte. Ob er es nun selber weiß oder nicht.
Produzent und Regisseur Christian Krönes empfiehlt »Ein deutsches Leben« als »zeithistorisches Dokument auch für Schulen, Museen und Bildungseinrichtungen«. Mit einer solchen Selbsteinschätzung freilich ist er weniger vorsichtig, als er es in der Produktion selber war. Denn ein zeithistorisches Dokument ist der Film nun gerade nicht. Er bildet vielmehr einen temporären Erfahrungsraum für den Diskurs von Erinnerung, Geschichte und Repräsentation. Wenn man ihn wie eine Quelle behandelt, verrät man seine manieristischen Meriten. Hier ist vieles zu finden, aber gewiss keine Quelle historischer Rationalität. Ein solcher Film muss erst durch einen Erfahrungs- und Reflexionsprozess hindurch, bevor er in Schulen und Museen endet. »Ein deutsches Leben« lief auf Festivals in Jerusalem und San Francisco. Voraussichtlich im Herbst soll der Film in den USA ins Kino kommen.
»Ein deutsches Leben« läuft ab 6. April in deutschen Kinos.
Georg Seeßlen hat gerade das Buch Trump! Populismus als Politik (Bertz + Fischer) veröffentlicht