Wie der Film »Holodomor« zur Relativierung des Holocaust beiträgt.
Von Sabine Lueken
Auch wenn wir von Freiheit von dem russischen Zaren träumten, ging das Leben einfach immer weiter, in einem ewigen Kreislauf von Säen, Pflügen und Ernten«, sagt eine Stimme aus dem Off. Dazu romantische Bilder von Kornfeldern, Windmühlen, mannshohen Ährengarben, Gemüsegärten mit Kürbissen vor reinlichen Holzhütten. Drinnen Ikonen, draußen Männer und Frauen mit kreuzstichbestickten Wyschywanka-Hemden, Sonnenblumen und Bienen, nicht zu vergessen die wilden, sich aufbäumenden Pferde als Symbol für den Freiheitswillen der Ukrainer. In diese kitschige Heile-Welt-Landidylle bricht der brutal- böse Politkommissar (schwarze Lederuniformjacke, Narbe, Dschingis-Khan-Bart und finster zusammengezogene Schlitzaugen) im Auftrag Stalins ein.
Der Film »Holodomor: Bittere Ernte«, ein Geschichtsepos »inspiriert durch wahre Begebenheiten«, ist eine unglaubliche Schmonzette, das gleich vorweg. Eingeladen zur prominenten Vorführung anlässlich des Erscheinens der DVD in Deutschland Ende März hatten der Verleih Pandastorm Pictures zusammen mit der Ukrainischen Botschaft und der Deutschen Assoziation der Ukrainisten. Thema ist die große Hungersnot in der Ukraine 1932/33 mit etwa 3,5 Millionen Toten, ein Ereignis, das in seinen Grundzügen unumstritten ist. Höchst umstritten, jedenfalls international, ist die Deutung des »Holodomor«: als geplantem Genozid an den Ukrainern – eine These, die in der Ukraine seit Wiktor Juschtschenko zur Staatsdoktrin gehört (wobei einige Historiker argumentieren, dass es sich nicht um die Vernichtung der Ukrainer als Ethnie handelt, sondern um den Angriff auf eine sich formierende politische Nation). Der Film setzt diese These in Bilder um und funktionalisiert damit die Opfer für eine Geschichtspolitik, die versucht, die Ukraine als Helden- und Märtyrernation im Kampf gegen Sowjetrussland zu etablierten. Gegen die These vom Genozid spricht neben anderen die hohe Zahl der Hungertoten auch in anderen Regionen der Sowjetunion, vor allem in Kasachstan, sowie die Tatsache, dass auch Ukrainer Sowjets waren, dass die Dichotomie zwischen ihnen als Täter und den Ukrainern als Opfer schon deswegen nicht haltbar ist. Zudem hat Stalin alle umbringen lassen, die ihm nicht passten, ohne Ansehen der Person oder »Rasse«.
Zurück zum Film. Während der Protagonist Yuri, Enkel eines berühmten Kosakenkriegers, und seine Liebste Natalka die erste gemeinsame Nacht erleben, findet im Moskauer Kreml ein bedeutsames Gespräch statt. Stalin, von dem man nur den grausamen, schnauzbärtigen Mund sieht, wirft Lenin posthum zu große Nachsicht vor, von der Syphilis verweichlicht, wie er war. Die Ukraine müsse sich beugen. Die bolschewistischen Budjonowka-Träger fallen ins Dorf ein, stehlen die Ikonen und beschlagnahmen den Hof eines Bauern. »Das wird der Staat entscheiden «, ist die Antwort des Politkommissars auf den Einwand des als Kulak (abwertend für wohlhabende Bauern) Beschuldigten, er sei arm. Der Priester, dem der Oberbolschewik bedeutet: »Es gibt keinen Gott und keine Hölle«, antwortet: »Hölle ist die Unfähigkeit zu lieben«, und wird sofort erschossen.
Über diesen Film mit seiner Figurenzeichnung bis zur Karikatur und den klischeehaften Dialogen mit teilweise unfreiwilliger Komik lässt sich nicht anders als zynisch berichten. Er tut den Opfern, denen er gewidmet ist, keinen Gefallen. Einige Szenen, die in Kiew spielen, wo Yuri seine Freunde wiedertrifft, lassen ahnen, dass die ukrainische Geschichte nicht so eindimensional war, wie Regisseur George Mendeluk uns überwiegend weismachen will. Yuris Freund Mykola ist ein bekannter Parteiführer geworden, angelehnt an die reale Person Mykola Skrypnyk, den ukrainischen Volksbildungskommissar. Beim Versuch, ukrainischen Patriotismus und kommunistische Überzeugungen zu verbinden, scheitert er und tötet sich selbst, weil ihn Stalins Schergen verfolgen. Auf dem Dorf eskaliert die Situation. Yuri flieht aus dem Gefängnis und schließt sich einer antibolschewistischen Kampfgruppe an. »Diese verdammten Ukrainer«, zürnt Stalin. »Nimm ihnen alles, wirklich alles … Transportiert die Lebensmittel ab, schließt ihre Banken und ihre Geschäfte!«
Ab da beschleicht mich das ungute Gefühl, auch bildersprachlich einer Gleichsetzung des Holodomor mit dem Holocaust beizuwohnen. Irgendwie kennt man diese Bilder: zertretene Brillen (Yuri wird von der Kunstakademie verwiesen und muss als Lumpensammler die Habseligkeiten der Gestorbenen sortieren), Leichen in Eisenbahnwaggons und auf Lastwagen, Erschießungskommandos und im Abspann Leichenberge im Graben in Schwarzweiß wie ein historisches Foto.
Schon der Begriff Holodomor lässt den Sprachunkundigen, der nicht weiß, dass holod das ukrainische Wort für Hunger und mor dasjenige für Seuche, Epidemie oder Hungersterben ist, an den Holocaust denken. Und in der Tat, die Absicht für die Verwendung dieses Begriffs – er kam aus der nordamerikanischen Diaspora in die Ukraine – war, die ukrainische Opfererfahrung in einen Kontext mit der jüdischen Erfahrung des Holocaust zu bringen. Die eigene Kollaboration mit den deutschen Besatzern und die Verwicklung in den Judenmord hingegen sind in der ukrainischen Öffentlichkeit weitgehend tabu.
Im US-Nachrichtenmagazin »Newsweek« erschien bereits 2015 während der Dreharbeiten ein Artikel, der den kanadischen ukrainischstämmigen Produzenten Ian Ihnatowycz, ein Multimillionär, wie der »Spiegel« weiß, zitiert. Er wolle mit dem Film »die Dinge über das Leiden der Ukrainer durch die Russen für den Westen richtigstellen …, eine Realität, die andauert«. Dieser Sichtweise pflichtet die »Newsweek«-Autorin Diane Francis bei, und auch Regina Mönch von der »FAZ« findet es gut, dass nun endlich über die »historische Wahrheit« aufgeklärt wird.
Auf diese Weise reiht sich der Film in die gerade stattfindende Neubewertung zentraler Ereignisse des 20. Jahrhunderts ein: die Relativierung des Holocaust, die Neu- und Umschreibung der Täter- und Opfergeschichte auf europäischer Ebene, die Gleichsetzung von historischen Phänomenen, ohne die jeweils treibenden Handlungsbedingungen und -absichten herauszuarbeiten. Er versucht, eine nationale Identität zu befördern, die möglichst gegen kritische und differenzierte Aufklärung und kognitive Hinterfragung immun ist, um sie als »Waffe« in der politischen Auseinandersetzung einzusetzen. In diesem Fall gegen Russland.
Sabine Lueken schrieb in konkret 2/17 über Niklas Franks Buch Dunkle Seele – feiges Maul