Aktuelles

tl_files/hefte/2019/abo919start.jpg

To watch this video, you need the latest Flash-Player and active javascript in your browser.

Tomayers Video-Tagebuch

No-Go-Area Deutschland

Filmkritiken

Termine

»Not him, us«

Kann der sozialdemokratische US-Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders sozialistischen Initiativen Spielraum verschaffen?

Von Paul Simon

Wer kann Donald Trump schlagen? Das fragen sich im Moment die amerikanischen Demokraten. Manche wollen einen moderaten Kandidaten, um keine Wähler in die Arme der Republikaner zu treiben. Joe Biden scheint diese Rolle zu füllen. Er ist neoliberal, will etwa die Sozialprogramme Social Security und Medicare kürzen und hat als alter weißer Mann einen als volkstümlich geltenden Habitus.

Doch das schadet ihm auch. Biden ist wie Hillary Clinton ein Produkt der rechtsorientierten Demokratischen Partei der achtziger und neunziger Jahre. Die Partei ist seitdem, wie die USA insgesamt, liberaler und diverser geworden. Auch wirtschaftspolitisch sind vor allem jüngere Amerikaner nach links gerückt. 58 Prozent aller 18- bis 34jährigen glauben laut einer Gallup-Umfrage vom August, dass eine Form des Sozialismus (womit sie Sozialstaat meinen) gut für die USA wäre. Bei jungen, weiblichen und nichtweißen Amerikanern ist der Wert noch höher. Ihr Kandidat heißt: Bernie Sanders.

Sanders liegt bei Umfragen unter demokratischen Wählern auf dem zweiten Platz, dicht gefolgt von Elizabeth Warren, die ebenfalls zum linken Flügel der Partei gehört. Sanders hat die Demokraten nach links gedrängt. So befürworten etwa fast alle der 20 demokratischen Kandidaten mittlerweile eine teilweise staatliche Gesundheitsvorsorge. Eine Senatsresolution, die ein Ende der US-Unterstützung für den verbrecherischen Jemen-Krieg fordert, ging ebenso maßgeblich auf Sanders Initiative zurück wie der »Green New Deal«-Entwurf. Nichts davon hat das Handeln der Regierung beeinflusst, doch es setzt Maßstäbe in der Partei.

Das Argument, ein linker Kandidat würde moderate Wähler abschrecken, beeindruckt Sanders’ Anhänger wenig. Hillary Clinton habe schließlich 2016 verloren – ein deutliches Zeichen, dass ein Status-quo-Kandidat keinen Erfolg mehr garantiere. Gewinnen könne man nur, wenn man für echte Veränderung stehe. Die politische Krise, die in Europa die Parteienlandschaft durcheinanderwirbelt und Populisten an die Macht bringt, äußert sich im Zweiparteiensystem der USA in Form innerparteilicher Revolten. Viele von Sanders’ Anhängern begreifen ihre Kampagne als offenen Angriff auf das Parteiestablishment und deren Institutionen.

Kein Wunder also, dass Sanders auch von vielen US-Linken unterstützt wird. Er macht Begriffe und Forderungen populär, die sonst in der amerikanischen Politik verdrängt werden. Der beliebteste Politiker des Landes bezeichnet sich als »demokratischer Sozialist«, fordert eine »politische Revolution« und entwirft radikale soziale Reformpläne, die der herrschenden Klasse Zugeständnisse abverlangen wie seit dem New Deal nicht mehr. Das ist natürlich kein Programm zur Überwindung des Kapitalismus. Aber die Kämpfe, die nötig wären, um seine Forderungen umzusetzen, könnten den Grundstein für den Aufbau einer politisch weitergehenden Bewegung legen.

Das glaubt zumindest die Gruppe um das sozialistische Magazin »Jacobin«. Die 2010 gegründete New Yorker Zeitschrift ist Sprachrohr der neuen linken Klassenpolitik in Amerika und unterstützt Sanders offensiv, wie auch die Sanders-Kampagne gerne mit ihr kooperiert. Die »Jacobiner« vertreten einen demokratisch-klassenkämpferischen Sozialismus: Die Überwindung des Kapitalismus betrachten sie als Fernziel, während zunächst der Aufbau einer sozialistischen Bewegung im Vordergrund stehen sollte. Die historische Einsicht, dass die Wohlfahrtsstaaten Europas ohne die Arbeiterbewegung nicht denkbar sind, wird von ihnen umgedreht: Der Weg zu einer Arbeiterbewegung soll über den Kampf – in Allianz mit linken Liberalen – für einen Wohlfahrtsstaat führen. Das nennen sie »Klassenkampf-Sozialdemokratie«. Die Sanders-Kampagne sei dabei als ein erster Schritt zu begreifen.

Es ist hilfreich, dass Sanders kein gewöhnlicher linker Demokrat ist. Der Unterschied zu seiner Konkurrentin Elizabeth Warren ist instruktiv. Viele Reformen befürworten sowohl Warren als auch Sanders, wenn auch Sanders meist einige entscheidende Schritte weitergeht. Auch Warren spricht immer wieder von »großen, strukturellen Veränderungen«, wenngleich sie sich demonstrativ als Kapitalistin, nicht als Sozialistin bezeichnet.

Doch Warren stammt aus der progressiven Reformtradition des amerikanischen Liberalismus. Sie gehört der gebildeten Mittelschicht an, die mit staatlichen Reformen (»I have a plan for that« ist ihr Slogan) die Ungerechtigkeiten und Dysfunktionen des Kapitalismus ausgleichen will. Schon jetzt deutet sich an, dass das Parteiestablishment auch mit ihr gut leben könnte. Warrens Unterstützer in der Demokratischen Partei sind eher wohlhabend und haben gute Universitätsabschlüsse.

Sanders ist dagegen eher ein Linker, der die Bedeutung von außerparlamentarischen Bewegungen betont. Er punktet besonders bei Demokraten mit niedrigem Einkommen und ohne Uniabschluss. »Wenn es schon einen Klassenkampf in dieser Gesellschaft geben muss, dann ist es an der Zeit, dass die Arbeiterklasse den Kampf gewinnt«, sagte er bei einer Gewerkschaftskonferenz im August. Er redet zudem nicht die Hindernisse klein, die der Umsetzung seines Programms im Weg stehen würden. Die »politische Revolution«, die ihm vorschwebt, könne nur funktionieren, wenn Millionen »normaler Menschen« auch nach der Wahl mobilisiert blieben. Fortschritt, so Sanders, hätten in der amerikanischen Geschichte immer nur Massenbewegungen erkämpft – Arbeiter-, Bürgerrechts- und Frauenbewegung seien Beispiele. Ziel seines Wahlkampfes soll deshalb der Aufbau einer linken Bewegung sein, die über das Phänomen Sanders hinausweist.

Was das konkret bedeutet, ist offen. Eine wichtige Rolle spielen für Sanders jedenfalls Gewerkschaften und Streiks, die er grundsätzlich unterstützt. Nur noch 10,7 Prozent der amerikanischen Arbeiter sind gewerkschaftlich organisiert. Wer sonst in Amerika arbeitet, hat meist das Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein. Auch die Zahl der Streiks ist seit den militanten Sechzigern und besonders seit den neoliberalen Achtzigern stetig gesunken, fast gegen null. 2018 hat es jedoch wieder mehr Streiks gegeben, wenn auch meist von Staatsbediensteten – trotzdem eine Trendwende. Besonders Lehrerstreiks im ganzen Land waren dabei wichtig, und einige der Organisatoren, etwa in West Virginia, hatten sich zuvor in Sanders’ Wahlkampf betätigt. Ebenfalls von Sanders unterstützt wurden Streikbewegungen im Niedriglohnsektor, etwa bei McDonald’s und Walmart, oder für einen landesweiten Mindestlohn von 15 Dollar. Sanders besucht streikende Arbeiter oder nutzt das millionenstarke Kommunikationsnetzwerk seiner Wahlkampagne, um zu solidarischen Demonstrationen aufzurufen und Geld für Streikende zu sammeln.

In der Demokratischen Partei werden ebenfalls Reformpläne diskutiert, um die Position von Gewerkschaften zu stärken. Oft geht es dabei um sektorale Tarifmodelle wie in Deutschland. Sanders’ Gesetzesvorhaben zur Stärkung der Gewerkschaften ist ambitionierter und will vor allem die gesetzlichen Bedingungen zum Aufbau von Gewerkschaften verbessern. In vier Jahren will er so die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten verdoppeln.

»Not me, us« heißt das Motto von Sanders’ Wahlkampf. Linke Aktivisten machen daraus gerne ein »Not him, us«. »Nicht er, sondern wir«, die linke Bewegung solle also im Vordergrund stehen, für deren Gründung Sanders’ Wahlkampagne die Chance biete.

In seinem im April veröffentlichten Buch The Socialist Manifesto entwirft »Jacobin«-Chef Bhaskar Sunkara eine demokratische Strategie zur Überwindung des Kapitalismus. Der Weg dahin führe »durch den Kampf für Reformen und Sozialdemokratie«. Es gibt an diesem Buch unendlich viel auszusetzen. Sunkaras strategische Überlegungen passen jedoch gut zur momentanen Situation der amerikanischen Linken, in der es darum geht, überhaupt erst mal wieder so etwas wie eine politische Organisation der Arbeiterklasse zu schaffen. Denn das, sagt Sunkara, sei nur möglich, wenn man sich aktiv am Kampf für soziale Reformen oder für eine linke Regierung beteilige – und sei es im Wahlkampf.

So kommt es, dass selbst Marxisten in den USA heute für einen Kandidaten der Demokraten Wahlkampf machen. Wird also Sanders’ Vermächtnis darin liegen, eine Generation potentiell Radikalisierter wieder in die Arme der Demokratischen Partei getrieben zu haben? Diese Sorge hört man in der amerikanischen Linken selten. Denn was immer man von Sanders und seinen Unterstützern bei »Jacobin« halten mag, sie haben dazu beigetragen, dass es heute in den USA überhaupt wieder so etwas wie eine antikapitalistische Bewegung gibt.

Als Trump 2016 die Wahl gewann, strömten Zehntausende, oft durch Sanders’ Wahlkampf politisierte Menschen in eine alte, aber kleine linke Organisation: die Democratic Socialists of America (DSA). Sie bestanden damals aus 6.500 Veteranen der Neuen Linken im Rentenalter. Fast über Nacht wurden daraus circa 60.000 junge Mitglieder. Auch die politische Orientierung wandelte sich. Die DSA waren lange eher sozialdemokratisch und engagierten sich innerhalb der Demokratischen Partei. Heute gibt es in ihr einen wichtigen marxistischen Flügel, Autonome, Anarchisten und andere Linksradikale.

Die DSA sind eine plurale Organisation ohne feste ideologische Linie, die sich immer schon an Präsidentschaftswahlkämpfen beteiligt hat. Hatte man aber in der Vergangenheit noch Barack Obama oder John Kerry unterstützt, legten sich in diesem Sommer 1.000 Delegierte bei der nationalen Konferenz in Atlanta fest, dass es für sie nur einen Kandidaten geben wird: Bernie Sanders. Gleichzeitig wurde beschlossen, dass die Demokratische Partei nicht den Horizont der DSA-Arbeit bilden dürfe, sondern langfristig ein Bruch, im Parteijargon ein »dirty break«, mit den Demokraten anzustreben sei, um gegen sie eine Partei der Arbeiterklasse aufzubauen. Das ging vor allem auf die Initiative des gut organisierten marxistischen Flügels zurück, der die Demokraten als Partei der »herrschenden Klasse« bezeichnet. Man werde zwar für die Demokraten Wahlkampf machen, aber dabei offen als Sozialisten auftreten und immer das Ziel verfolgen, von der Partei unabhängige linke oder militante Organisationen zu stärken.

Die DSA haben zwar ihr Schwergewicht in New York, Chicago, LA und DC, sind aber ansonsten mit circa 175 Ortsgruppen über das ganze Land verstreut. Das Internet schafft darüber hinaus Zusammenhänge und dient als Ersatz für eine linke Kultur oder Szene, die es in den meisten Teilen der USA schlicht nicht gibt. Dem bösartigen Klischee nach handelt es sich bei den neuen DSA-Mitgliedern jedoch trotzdem meist um »downwardly mobile white people« aus Brooklyn: Hipster-Sozialisten, die sich radikalisierten, weil ihnen nach der Finanzkrise der soziale Aufstieg weniger leichtfiel als ihren Eltern. Ganz von der Hand weisen lässt sich das nicht, und auch in der Organisation wird darüber gesprochen, wie man mehr Mitglieder gewinnen könne, die nicht dem Profil des weißen Akademikers entsprechen.

Ernst meint man es offenbar damit, dass man eine Klassenkampforganisation sein will, die sich in verschiedenste Kämpfe einbringt. Das können völlig unterschiedliche lokale Anliegen sein – Mieteninitiativen, Migrantenrechte, Antifa, Kampf dem Polizeistaat, Anti-Abschiebung etc. – oder nationale Kampagnen wie etwa für den Mindestlohn von 15 Dollar oder die Krankenversicherung für alle. Andere unterstützen streikende Arbeiter, sei es finanziell, demonstrierend, mit Know-how, Publicity oder der Betreuung von Kindern. Die DSA wollen aber auch bereits bestehende Gewerkschaften politisch radikalisieren. Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob man dazu mit Gewerkschaftsführungen kooperieren oder die Mitglieder direkt für mehr Militanz agitieren soll. In New York wird sogar an einer entristischen Strategie gearbeitet: Mitglieder sollen gezielt in Gewerkschaften eintreten und dort DSA-Gruppen aufbauen.

Aktuell im Vordergrund stehen aber der Wahlkampf und die nationale Kampagne für die Gesundheitsreform. Nicht nur, um Teil einer Mobilisierung zu sein, die in den nächsten Monaten möglicherweise Millionen von Amerikanern erfassen wird, sondern auch, weil Sanders tatsächlich echte Chancen hat, Präsident zu werden: Biden ist sehr schwach und Sanders landesweit viel beliebter als Trump.

Dabei stehen die meisten DSA-Mitglieder weit links von Sanders. Etwa in der Einwanderungsfrage: Die DSA befürworteten »offene Grenzen«, eine Forderung, die Sanders ablehnt. Er sprach sogar davon, dass Arbeitsmigration begrenzt werden müsse, um die Löhne amerikanischer Arbeiter nicht zu senken. Doch in tagesaktuellen Fragen gibt es wenig Differenzen. Denn auch Sanders ist für Solidarität mit Einwanderern und schürt keine Ressentiments. Als Donald Trump im Juni Razzien für Massenabschiebungen in zehn amerikanischen Städten ankündigte, erhielten alle im Umkreis dieser Städte lebenden Sanders-Anhänger eine Warn-E-Mail, die ihnen auf Englisch und Spanisch ihre Rechte erklärte. Auch Sanders’ kostenlose Gesundheitsversorgung soll für »Illegale« offenstehen.

Eine Ausnahme bildet das Thema Israel. Die DSA sind, wie fast die gesamte junge linke Generation in den USA, dogmatisch antiisraelisch, bis hin zur offiziellen Unterstützung der Boykottbewegung BDS. Als 2017 die entsprechende Resolution verabschiedet wurde, riefen Delegierte: »From the River to the Sea, Palestine will be free.« Sanders hingegen verteidigt das Existenzrecht Israels. Er lehnt BDS ab, hat aber die Möglichkeit ins Spiel gebracht, die US-Hilfe an Israel zu kürzen, um die Regierung unter Druck zu setzen. Nach wie vor gibt es in der amerikanischen Linken keine vernehmbare Kritik am Antisemitismus der Anti-Israel-Bewegung. Das ist ein Grund, warum man das Erstarken der USLinken auch mit Sorge betrachten muss. Sanders ist hier zwar noch eine Stimme der Vernunft, aber den Konflikt mit seinen linken Anhängern sucht er an dieser Stelle nicht.

In Deutschland nehmen manche Sanders als Gewährsmann für eine linkspopulistische Strategie, mit der durch klare, einfache Forderungen die Massen mobilisiert werden sollen, um eine Mehrheit für die Regierungsübernahme zu finden. Doch das übersieht, wie wichtig Bewegungspolitik für das Phänomen Sanders ist. Sanders hatte schließlich nie damit gerechnet, Präsident zu werden, als er das erste Mal antrat, sondern wollte nur Aufmerksamkeit auf wichtige Anliegen lenken.

Deutsche Entsprechungen zum »Bernie«-Phänomen sind deshalb vielleicht Bewegungen wie Ende Gelände oder DeutscheWohnen-Enteignen. Das sind Bündnisse, über die linke Gruppen um dringliche Probleme, die Millionen betreffen, eine Bewegung organisieren, die auf erreichbaren, aber dennoch radikalen Forderungen basiert, auch mit dem Ziel, Interessen- und Klassengegensätze sichtbarer zu machen und zu verschärfen. Das, wovor sogar der Verfassungsschutz warnt – dass nämlich normale Bürger beim Engagement im Bündnis mit Linken gegen Kohleabbau oder für den Hambacher Forst radikalisiert werden könnten –, ist genau das, was auch die neuen Linken von den DSA sich erhoffen, wenn sie gemeinsam mit Millionen von Menschen für ein konkretes materielles Ziel wie Medicare for All kämpfen: Wer erst einmal Teil einer kämpferischen Bewegung gegen steigende Mieten, den Kohleabbau oder für Gesundheitsversorgung für alle ist, kann gar nicht anders, als irgendwann zu dem Schluss zu kommen, dass der Verwirklichung dieser Ziele die Interessen der Investorenklasse und der Wohlhabenden im Weg stehen – oder sogar der Kapitalismus als solcher. Dass solche Bewegungen erfolgreich sein können, zeigt, dass gesellschaftliche Konflikte, die lange zugedeckt waren, heute wieder offen zutage treten

Paul Simon schrieb in konkret 9/19 über den Niedergang der Deutschen Bank

Zurück