Interview mit der US-amerikanischen Ethnografin und Osteuropa- Expertin Kristen R. Ghodsee über Frauenrechte und Sex im Sozialismus und ihren Traum von einer sozialistischen US-Präsidentin
konkret: War der Buchtitel Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben Ihre Idee?
Kristen R. Ghodsee: Nein, ich wollte, dass er geändert wird. Aber die Marketingabteilung meines US-Verlags hat mich überstimmt.
Der Titel klingt nach dem aufmerksamkeitsheischenden Clickbaiting.
Stimmt. Ich habe acht weitere wissenschaftliche Bücher geschrieben, hier machte ich meine ersten Erfahrungen mit einem großen Publikumsverlag. Im Gegenzug durfte ich all die Fußnoten, die meine Behauptungen wissenschaftlich untermauern, unterbringen. Das klang nach einem guten Deal.
Beim Lesen dachte ich, dass der Titel vielleicht doch eine gute Strategie ist: Leute für theoretische Überlegungen zum Sozialismus mit Sex zu ködern.
Ja, die Marketingleute wussten, was sie taten. Niemand zuckt mit der Wimper, wenn Kapitalisten Sex benutzen, um uns Shampoo oder Autos zu verkaufen. Warum sollte man Sex also nicht mal benutzen, um eine Kritik am Kapitalismus zu formulieren, um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen? Viele junge Leute nehmen das Buch in die Hand, weil der Titel sie neugierig macht oder sie ihn für einen Witz halten, aber sie lesen dann ein ziemlich ernstes Buch über Sozialismus und Feminismus.
Wie kamen Sie als 1970 in Kalifornien geborene Tochter puertoricanischer und iranischer Einwander*innen dazu, sich für Osteuropa zu interessieren?
Während der Reagan-Ära sagten viele Amerikaner*innen Sachen wie »Lieber tot als rot«. Als Teenagerin dachte ich: »Echt jetzt? Ist der Kommunismus so böse? Oder ist das nur nationalistische Propaganda?« Diese Fragen brachten mich zu den Model United Nations, eine Art Debattierklub, in dem Jugendliche die UN nachspielen. Dort erfuhr ich erstmals überhaupt etwas über den real-existierenden Sozialismus, und als ich mehr und mehr über Glasnost und Perestroika lernte, dachte ich, dass sich die Sowjetunion reformieren würde. 1990 reiste ich durch Osteuropa und träumte von einer friedlichen Koexistenz. Dann brach die UdSSR zusammen, und ich wollte verstehen, warum. Die Ereignisse von 1989 und 1991 beeinflussten so den gesamten Verlauf meiner Unikarriere.
Sie halten die US-Millennials für die erste Generation, die bereit für den Sozialismus ist. Sind Sie sicher?
Millennials können sich für den Sozialismus erwärmen, weil ihre Ansichten nicht vom Antikommunismus des Kalten Kriegs vergiftet sind. Der McCarthyismus hat Verheerungen in der politischen Kultur der USA angerichtet, die bis heute fortwirken. Viele, die das miterlebt haben, trauen sich nicht einmal, sozialistische Ideen zu diskutieren, weil sie Angst vor Angriffen von rechts haben. Aber jemand wie die Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die einen Monat vor dem Mauerfall geboren wurde, hat ihr ganzes Leben die Verwüstungen des Kapitalismus mit angesehen, so dass sie offen für andere Ansätze ist. Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt demokratische Kandidat*innen für die Präsidentschaftswahlen 2020 gibt, die Trumps Desinformationskampagne überstehen. Aber die Millennials und die Generation Z sind rein zahlenmäßig den Baby Boomers und der Generation X überlegen. Es ist möglich, dass die USA 2024 eine sozialistische Präsident*in haben – falls unsere Demokratie vier weitere Jahre Trump überlebt.
Die letzten Seiten Ihres Buches wirken fast wie eine Wahlkampagne für ein sozialistisches Amerika.
Die Wahl von Trump und seine von Hass durchdrungene rassistische und misogyne Rhetorik waren sicher Gründe, dieses Buch zu schreiben. Aber ich habe das Manuskript bereits im März 2018 abgeschlossen, lange vor den bevorstehenden Wahlen. Wahlen sind nicht das einzige, was Veränderung bewirken kann.
In Ihrem Buch erscheint der harte, realsozialistische Frauenalltag im Vergleich zum Leben im entfesselten US-Neoliberalismus heute wie ein Privileg. Warum machen die Leute das dann mit? Warum kriegen Frauen Kinder in einem Land, in dem es immer noch keinen gesetzlich garantierten Mutterschaftsurlaub gibt?
In den USA fällt die Geburtenrate kontinuierlich seit vier Jahren. Sie ist zwar noch höher als in Deutschland, aber auch dort schieben die Frauen das Kinderkriegen immer weiter hinaus. Die US-Bevölkerung ist jedoch weitaus religiöser als die westeuropäische. Eine Studie hat ergeben, dass 68 Prozent der Amerikaner*innen, die sich als christlich bezeichnen, jeden Tag beten; in Großbritannien tun das nur sechs Prozent, in Deutschland neun. In den USA lehnen 2019 immer noch 18 Prozent der Bevölkerung die Vorstellung ab, dass Menschen ein Produkt der Evolution sind. Die höhere Religiosität, vor allem bei den Evangelikalen, schlägt sich in höheren Geburtenraten nieder. Die Frauen in diesen Communitys sind damit zufrieden, zu Hause zu bleiben und sich ihrem Mann unterzuordnen, weil es so in der Bibel steht. Religion ist der ideologische Apparat, der die Leute dazu bringt, sich trotz der Herrschaft des Neoliberalismus weiter zu vermehren.
Sie betonen die Wichtigkeit weiblicher Autonomie. Der einzige Weg dorthin scheint für Sie die Lohnarbeit zu sein. Warum hat die Utopie eines Lebens abseits vom Erwerbsfetisch keinen Platz in einem utopischen Buch?
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten des Fortschritts. Aber es war nicht mein Ziel, ein reines Theorie- oder Utopiebuch zu schreiben. In der Welt, in der wir gerade leben, haben viele Frauen damit zu kämpfen, Arbeit und Familie zu vereinbaren, weil die Gesellschaft Care-Arbeit abwertet, sich aber weigert, sie zu kollektivieren. Dabei kennen wir konkrete Strategien dafür, die in der Vergangenheit geklappt haben und sich wunderbar für das 21. Jahrhundert adaptieren ließen.
Sie beziehen sich einmal auf die sexualökonomische Theorie, nach der Sex etwas sei, das Frauen haben und Männer wollen und das Frauen daher verknappen müssen, um von den ökonomisch potenten Männern gut versorgt zu werden. Sie kritisieren die kapitalistische Marktförmigkeit dieser Theorie zwar, aber können wir in Zeiten des Neoliberalismus, in denen alle für ihr eigenes Wohl verantwortlich sind, überhaupt noch in diesen Kategorien denken?
Solange Frauen die Babys bekommen, werden Arbeitgeber*innen ihnen weniger Lohn zahlen. Die implizite Annahme ist, dass sie irgendwann ausfallen und damit weniger verlässliche Arbeitskräfte sind. Wirtschaftswissenschaftler*innen nennen das statistische Diskriminierung. Arbeitgeber*innen gehen davon aus, dass Frauen als Klasse weniger wert sind als Männer. Wenn ein Heteropaar Kinder bekommt und keine bezahlbare Betreuung verfügbar ist, bleibt in der Regel die Person mit dem geringeren Einkommen zu Hause: die Frau. Das verstärkt die Annahme, dass Frauen weniger verlässliche Arbeitskräfte sind. Dieser Teufelskreis kann nur durch ein soziales Sicherungsnetz durchbrochen werden, in dem sich Arbeit und Kinderaufzucht kombinieren lassen – oder die Leute hören ganz auf, Kinder zu bekommen.
Ihr Rückblick auf den realsozialistischen Alltag macht allerdings nochmals klar, dass Sexismus und Rassismus auch in sozialistischen Ländern ein Problem geblieben sind.
Stimmt, im Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts hat das Patriarchat fröhlich weiterexistiert. Die Männer haben sich geweigert, im Haushalt zu helfen. Ich habe viele Aktivistinnen aus dem bulgarischen Frauenkomitee interviewt; sie meinen, dass der Sozialismus einfach nicht lange genug existiert habe, um das Patriarchat zu unterminieren. Es gibt Hinweise darauf, dass jüngere Männer schon weniger sexistisch waren und mehr halfen, weil sie mit progressiveren Rollenbildern aufgezogen wurden. Die Idee war jedoch nie, die Hausarbeit gerecht zwischen Männern und Frauen aufzuteilen, sondern sie zu kollektivieren. Die meisten osteuropäischen Staaten hatten nicht die finanziellen Mittel dafür und verließen sich darauf, dass die Frauen sich zu Hause schon selbst drum kümmern würden. In Skandinavien, wo es mehr Geld gibt, um Elternzeit, Krippen und Kindergärten zu finanzieren, beobachtet man auch mehr Gendergerechtigkeit. Vielleicht braucht man wirklich schlicht mehr Geld und Zeit. Für ein anderes Buch habe ich Sozialistinnen aus Sambia interviewt, die lange vor West-Frauen angefangen haben, ihre Situation intersektional zu betrachten. Natürlich hat der Sozialismus nicht alle Probleme der Welt gelöst, und es wäre naiv zu glauben, dass das jemals möglich sein wird. Aber öffentlich finanzierte Sicherheitsnetze können viele der schädlichen Effekte, die der Neoliberalismus verschärft, zumindest abschwächen. Rassismus und toxischer Nationalismus werden benutzt, um Amerikaner*innen davon zu überzeugen, dass ihre Prekarität immer noch besser sei, als irgend etwas von ihrem (nicht vorhandenen) Wohlstand mit Migrant*innen oder Minderheiten zu teilen.
Da Sie längere Zeit in Ost- und Westdeutschland verbracht haben, ist Ihnen das Stereotyp der sexuell lockeren Ostfrau sicher bekannt. Hatten Sie keine Angst, diese Männerphantasie zu verstärken?
Die Gefahr, im deutschen Kontext Klischees zu bedienen, ist mir sehr bewusst. Aber ich habe für ein US-Publikum geschrieben, das sehr wenig über Frauenrechte im Staatssozialismus weiß. Viele sind erstaunt, dass Osteuropäer*innen überhaupt Sex hatten! Das US-Stereotyp vom Leben im Kommunismus stammt aus George Orwells 1984: eine komplett sexlose Existenz, in der Orgasmen illegal sind und die einzig erlaubte Liebe die zum Big Brother ist. Wenn ich meinen Studierenden Siegfried Schnabls DDR-Aufklärungsbuch Mann und Frau intim zeige, sind sie geschockt, dass ein kommunistisches Land 1969 ein solches Buch veröffentlichte – mit expliziten Anweisungen, wie Männer Frauen befriedigen können.
Warum plädieren Sie für einen langsamen Übergang zum Sozialismus statt für eine Revolution?
Ich bin da sehr misstrauisch. Ich habe sogenannte Revolutionen schließlich im osteuropäischen Kontext erforscht und weiß, mit welchen hohen menschlichen Kosten sie oft einhergehen. Aber auch langsame Reformen können sich zu explosiven Veränderungen entwickeln. Glasnost und Perestroika waren Reformversuche, die zum Ende der Sowjetunion geführt haben. Auch Reformen können revolutionäres Potential haben – manchmal jedoch anders, als man sich das vorgestellt hat.
Interview: Sonja Eismann