Vom hessischen Geheimdienstmitarbeiter Andreas Temme führen nicht nur Spuren zum NSU, sondern auch zum Mörder von Walter Lübcke.
Von Friedrich C. Burschel
Wenn es einen Fall gibt, der die Unantastbarkeit deutscher Behörden, insbesondere der Geheimdienste, auf geradezu groteske Weise illustriert, so ist es der des hessischen Geheimdienstmitarbeiters Andreas Temme, der während der Ermordung Halit Yozgats am 6. April 2006 in Kassel am Tatort anwesend war. In einem Ermittlungsverfahren gegen ihn hatte er immer nur zugegeben, was er nicht mehr leugnen konnte. Zunächst gab Temme an, das Internetcafé Yozgats gar nicht zu kennen, später gab er zu, dort gewesen zu sein – aber nicht am Tattag. Nachdem das widerlegt war, gab er an, nicht zur Tatzeit dort gewesen zu sein.
Andreas Temme war genau zur Tatzeit als »Wildman70« in einen Erotikchat eingeloggt, während im vorderen Raum der Ladeninhaber mit zwei Kopfschüssen – wahrscheinlich vom NSU oder seinen Helfern – getötet wurde. Kurz vor und kurz nach dem Mord, von dem Temme rein gar nichts mitbekommen haben will, hatte er mit einem seiner Spitzel aus der Kasseler Nazi-Szene, Benjamin Gärtner, telefoniert. Einmal ganze elf Minuten. Denn Temme war als Staatsbeamter sogenannter V-Mann-Füh- rer und zu diesem Zeitpunkt mit der Führung von V-Personen, also Informanten, unter anderem aus dem neonazistischen Spektrum betraut. Das Ermittlungsverfahren gegen Temme wurde nach kurzer Zeit und auf Betreiben des damaligen hessischen Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier eingestellt. Bouffier hatte auch die Vernehmung von Temmes Spitzeln durch die Ermittlungsbehörden unterbunden.
Für den Mord an Halit Yozgat interessierte sich zur damaligen Zeit auch ein gewisser Markus Hartmann. Die Polizei lud ihn vor, weil er allzuoft die polizeiliche Fahndungsseite zum Yozgat-Mord im Internet angeklickt hatte. Er gab an, sich für den Fall interessiert zu haben, weil er das Opfer gekannt und mit einem Freund Yozgats in einem Haus gelebt habe. Dass Hartmann schon zu dieser Zeit Mitglied der örtlichen Nazi-Szene war, interessierte die Ermittler damals ebensowenig wie 2011 nach dem Auffliegen des NSU. Und dass Hartmann derzeit als Komplize des mutmaßlichen Mörders des Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Stephan Ernst, in Untersuchungshaft sitzt, passt ins Bild, wie wir sehen werden.
Temme jedenfalls hatte nach dem En- de der Ermittlungen gegen ihn ein paar Jahre Ruhe. Erst mit dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 wurde auch sein Fall wieder ausgegraben. Wieder behauptete der »Verfassungsschützer«, er habe von nichts etwas mitbekommen, könne sich das ganze Geschehen nicht erklären und sei unschuldiges Opfer übler Verdächtigungen. An Temmes Geschichte war jedoch von Anfang an etwas faul. Im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen ihn war seine Kommunikation überwacht worden, die Protokolle verschwanden jedoch in Akten, die bis zum Schluss nicht in den Bestand des Münchener NSU-Verfahrens einbezogen wurden. Es gelang den Nebenklageanwälten der Familie Yozgat, die Mitschnitte ausfindig zu machen und neu transkribieren zu lassen.
Neben atemberaubenden rassistischen Tiraden seiner Ehefrau findet sich darunter auch das Transkript eines Telefonats Temmes mit seinem Kollegen im Landesamt für Verfassungsschutz (LfV), dem damaligen Geheimschutzbeauftragten Gerald-Harro Hess. Zur Eröffnung des Gesprächs sagt der zu Temme: »Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so was passiert, bitte nicht vorbeifahren.« Sätze wie dieser können eigentlich nur so verstanden werden, dass man im LfV schon vor der Tat vom Mordanschlag auf Halit Yozgat wusste.
Die Transkripte veranlassten das Gericht in München allerdings nicht, weiter zu ermitteln. In einem Beschluss vom 12. Juli 2016 erklärte es, sich durch die mehrtägige Vernehmung »einen umfassenden persönlichen Eindruck von dem Zeugen« verschafft zu haben, dass aber auch bei einer »Gesamtbetrachtung sich keine Umstände (ergeben), die den Senat an der Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen Temme zweifeln lassen«. Und das, obwohl das Forscherteam »Forensic Architecture« von der Goldsmith-University in London, das den Tathergang im Kasseler Internetcafé minutiös rekonstruiert hat, nachgewiesen hat, dass Temmes Version nicht stimmen kann.
Fast fünf Jahre nach der quälenden mehrtägigen Vernehmung Temmes vor dem Münchener Oberlandesgericht und über ein Jahr nach dem fragwürdigen Münchener Urteil taucht Temme nun wieder auf. Er war vom Verfassungsschutz zunächst in die Personalabteilung im Regierungspräsidium Kassel und nach anhaltenden Protesten von dort zur Müllentsorgung versetzt worden, wo er noch heute arbeiten soll. Aber die irre Geschichte seiner Verstrickung in den NSU-Mord in Kassel verfolgt ihn weiter.
Am 2. Juni 2019 wurde sein Dienstherr Walter Lübcke (CDU) mutmaßlich von dem Nazi Stephan Ernst durch einen Kopfschuss ermordet. Bereits erste Ermittlungen machten deutlich, dass Ernst und sein mutmaßlicher Komplize Markus Hartmann tief in das braune Netzwerk Nordhessens verwickelt sind und sich Spuren bis zum Terrornetzwerk Combat 18 ebenso wie in das Umfeld der NSU-Unterstützer verfolgen lassen (konkret 8/19). Mit Ernst war auch Hartmann im Oktober 2015 auf einer Bürgerversammlung in Lohfelden, wo Lübcke, mit einem pöbelnden rassistischen Mob konfrontiert, beherzt austeilte. Das war wohl sein Todesurteil. Hartmann filmte das Geschehen und stellte das Video ins Netz. Es folgten rassistische Kommentare und Mordphantasien.
Bei einer Hausdurchsuchung bei Hartmann fand man ein Buch des »Compact«- Autors und Pegida-Redners Akif Pirinçci, in dem Hartmann den Passus zu jener Bürgerversammlung angestrichen hatte. Hartmann, der einer von Tausenden legal Waffen hortenden Nazis in Deutschland ist, hat seinem Kumpel Stephan Ernst die Waffen besorgt, ihn das Schießen gelehrt und gemeinsam mit ihm Lübcke im Visier behalten.
Aber es geht noch weiter: Erst Mitte Oktober 2019 gestand der derzeitige hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) ein, dass Temme auch mit Ernst »dienstlich befasst« war. In welcher Funktion, ist nicht klar, aber erwiesen ist, dass unter anderem Temmes Spitzel Gärtner mit Ernst befreundet war. Auch in einem zunächst für ganze 120 Jahre als geheim klassifizierten Bericht des hessischen Innenministeriums aus dem Jahr 2014, von dessen knapp 260 Seiten der hessische Untersuchungsausschuss nur 30 zum Teil geschwärzte Seiten zu sehen bekam, kommen nicht nur Temme und Gärtner, sondern auch Ernst mehrfach vor.
Die Story, der zufolge Ernst den Behörden schon in den nuller Jahren als »extrem gefährlicher« potentieller Gewalttäter aufgefallen war und dann vom Radar der Dienste verschwunden sei, ist eine bizarre Lüge. Ernst taucht immer wieder als vernetzter Nazi und extremer Gewalttäter auf. Erst Mitte Oktober 2019 zog die Bundesanwaltschaft ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen Ernst an sich: Er soll am 6. Januar 2016 – wiederum in Lohfelden – laut Generalbundesanwalt versucht haben, »einen irakischen Asylbewerber heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen zu töten. Stephan E. soll sich dem Opfer unbemerkt von hinten genähert und ihm dann unvermittelt mit einem Messer in den oberen Rücken gestochen haben. Durch den Stich erlitt der Geschädigte erhebliche Verletzungen, die eine intensivmedizinische Behandlung notwendig gemacht haben.«
Derweil stellt die Bundeskanzlerin der »lückenlosen Aufklärung« ihre Betroffenheit zur Schau. Anfang November 2019 pilgerte sie zur Wiedereinweihung eines Gedenk- ortes für die Opfer des NSU nach Zwickau. Die Angehörigen der Ermordeten waren über die Veranstaltung nicht informiert und zu ihr auch nicht eingeladen worden. Die erneute Einweihung war notwendig geworden, nachdem unbekannte Täter einen Gedenkbaum für das erste NSU-Mordopfer, Enver Şimşek, abgesägt hatten. Ein politischer Hintergrund wird nicht ausgeschlossen.
Friedrich C. Burschel schrieb in konkret 8/19 über den Fall Walter Lübcke