Nach 55 Jahren hat die britische Kultserie »Doctor Who« zum ersten Mal eine weibliche Hauptfigur.
Von Norma Schneider
Doctor Who« ist die dienstälteste Science-Fiction-Serie der Welt. 1963 strahlte das britische Fernsehen die erste Folge aus, zwei Jahre vor der ersten »Star Trek«-Episode. Ursprünglich als Kinderserie mit Bildungsauftrag konzipiert, hat »Doctor Who« über die Jahre eine breite Fanbasis in allen Altersgruppen erreicht, die die Serie für ihre sympathische Schrulligkeit liebt. Der Protagonist ist ein Außerirdischer aus der Spezies der Timelords, der sich The Doctor nennt und mit einem geklauten Zeitmaschinenraumschiff durch das Universum reist. Unterwegs versucht er zu helfen, wo er kann. Aber vor allem hat er Spaß daran, neue Orte kennenzulernen und interessante Persönlichkeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu treffen. »Doctor Who« erzählt verspieltere und weniger ernste Geschichten als die meisten bekannten ScienceFiction-Serien.
Passend für eine Kinderserie gehört der Glaube daran, dass jeder Mensch im Kern gut ist, zu den Grundprinzipien. Der Doctor lehnt Gewalt ab und verhindert Kriege und Zerstörung, indem er Angreifern gut zuredet. Das kann man naiv nennen. Aber man kann es auch als eine Utopie verstehen, die mindestens so schön ist wie die zukünftige aufgeklärte Gesellschaft bei »Star Trek«. In der Utopie von »Doctor Who« sind Vernunft und gute Argumente die besseren Waffen, individuelle Freiheit, Neugierde, Empathie und Offenheit die höchsten Werte und Bücher und Kekse die meistgeschätzten Dinge. In so eine Welt lässt man sich gerne für ein paar Episoden entführen.
Die Erde ist der Lieblingsplanet des Doctors, und er nimmt gerne menschliche Begleiterinnen und Begleiter mit auf seine Abenteuer durch Raum und Zeit. Er ermöglicht es ihnen, einem tristen Alltag und nervigen Job zu entfliehen und die Wunder des Universums zu erkunden. Bisher hatte diese Konstellation allerdings einen unangenehmen Beigeschmack, denn meistens war es eine junge, hübsche Frau, die den männlichen Doctor begleitet. Es waren zwar schon länger nicht mehr das verängstigte Dummerchen wie in der Anfangszeit der Serie, sondern starke Frauen, die auch mal Widerworte gaben und ihr eigenes Ding machten. Aber es blieb immer noch die junge Frau, die zum weisen, weitgereisten Herrn Doctor aufschaute. Das hat sich mit der aktuellen elften Staffel geändert. Denn zum ersten Mal ist der Doctor eine Frau.
In der Logik der Serie ist das kein Problem. Denn die Timelords haben die für die Serienmacher praktische Eigenschaft, dass sie nicht sterben, sondern einen neuen Körper bekommen, wenn sie tödlich verletzt sind. Die Schauspieler kann man dann einfach austauschen. Bisher hat den Doctor immer ganz selbstverständlich ein Mann verkörpert, obwohl die Macher schon vor Jahren die Fähigkeit der Timelords, das Geschlecht zu wechseln, eingeführt haben. Die Fans haben seitdem immer häufiger sehr kontrovers über die Möglichkeit eines weiblichen Doctors diskutiert. Viele waren überzeugt, dass die BBC einen so radikal scheinenden Schritt nicht wagen würde. Immerhin ging es um eine Ikone der britischen Popkultur. Als der Sender dann im Juli 2017 verkündete, dass Jodie Whittaker der 13. und erste weibliche Doctor sein würde, waren die Reaktionen geteilt. Für viele war es ein längst überfälliger Schritt, für andere Verrat an ihrer geliebten Serie und dem Helden ihrer Kindheit. Wütend schimpften sie auf die »Political-Correctness-Brigade«, die hier einen Sieg auf Kosten einer traditionellen Fernsehfigur errungen habe. In den sozialen Medien kündigten viele sogar an, ihre Lieblingsserie in Zukunft nicht mehr einzuschalten.
Die Quoten haben sich aber im Vergleich zu den vorigen Staffeln nicht verschlechtert, und der von konservativen Fans befürchtete Verrat blieb aus. Die aktuelle Staffel unterscheidet sich kaum von den vorigen. Es gibt wie immer liebenswerte Figuren, etwas trashige Monster, lustige Dialoge, bedeutungsvolle Reden darüber, wie wichtig jedes Individuum ist, und einen etwas verpeilten Doctor mit zweifelhaften Fashion-Choices. Jodie Whittaker ist nicht besser oder schlechter als ihre Vorgänger, sie ist genauso verschroben, ein bisschen verrückt und ziemlich bossy. Sie verkörpert unverkennbar die Kultfigur des Doctors. Das muss auch denen auffallen, die ihre Ablehnung damit begründeten, dass ein weiblicher Doctor die Serie zu stark verändern würde. Viele halten dennoch daran fest und entlarven sich als Sexisten. Wer argumentiert, dass James Bond ja auch nicht plötzlich von einer Frau gespielt wird, hat »Doctor Who« nicht verstanden. Der Doctor ist ein uraltes Alien mit Fähigkeiten, die der menschliche Verstand gar nicht erfassen kann. Da wäre es doch absurd, wenn er wie 007 auf klischeehaftes männliches Gehabe angewiesen sein sollte, um die Welt zu retten.
Jodie Whittaker macht das in der aktuellen Staffel stattdessen mit viel Witz und Erfindungsgeist. Die Zuschauer erwarten unter anderem geheimnisvolle verlassene Planeten, Killer-Aliens, die ihre Gesichter mit den Zähnen ihrer Opfer dekorieren, futuristische Raumschiffe und ein zeitreisender Nazi, der Rosa Parks ermorden will.
Die Autorinnen und Autoren versuchen in ihren Storys, das klassische Schema von Gut und Böse zu unterlaufen. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut. Die Episode »Arachnids in the UK« beginnt als klassische Monsterinvasionsgeschichte. Riesige mutierte Spinnen breiten sich in der englischen Stadt Sheffield aus. Der Doctor weigert sich aber, die Tiere als Monster zu bezeichnen, da sie für ihre unnatürliche Größe und ihr aggressives Verhalten nichts können. Sie sind bloß Opfer eines unsympathischen Investors, der sich bereichern will und es deshalb mit der Entsorgung von Laborabfällen nicht so genau nimmt. So ersetzt ein vereinfachtes Feindbild ein anderes.
Mehr Potential hat die Folge »Kerblam!«, die an die bedrückenden Zukunftsszenarien der Serie »Black Mirror« erinnert. Allerdings geht es bei »Doctor Who« etwas weniger düster zu. Kerblam! ist das Amazon der Zukunft, ein riesiger Versandhändler, der die ganze Galaxie beliefert. Der Doctor hat einen Hilferuf auf einem Lieferschein gefunden und will mehr erfahren. Sie und ihre Begleiter heuern bei der Firma an und ermitteln undercover, was dort schiefläuft. Die einfache Dichotomie von bösem Konzern auf der einen und hilflosem Arbeiter auf der anderen Seite fehlt hier. Die größtenteils automatisierten Arbeitsabläufe und die vielen Roboter werden zwar als gruselig und beängstigend dargestellt, aber nicht als grundsätzlich schlecht. Nicht die Technik ist das Problem, sondern wie die Menschen sie nutzen, sagt der Doctor. Da hat sie mal wieder recht.
Nach dieser Staffel will man mehr von Jodie Whittakers Doctor sehen, weil sie die Kultfigur so wunderbar verkörpert – und weil es gut ist, dass junge Zuschauerinnen auf der Suche nach einer weiblichen Identifikationsfigur nicht weiter davon träumen müssen, von einem Mann beschützt zu werden und die Welt erklärt zu bekommen, sondern sich danach sehnen können, selbst die Heldin zu sein. Für die Figur des Doctors ist das Geschlecht egal, für die Zuschauer/innen nicht. Wie sehr männliche Helden immer noch Kino und Fernsehen dominieren, zeigte sich daran, wie ungewohnt und erfrischend es war, als mit »Wonder Woman« 2017 endlich eine Comicverfilmung mit weiblicher Titelheldin in die Kinos kam und als bei »Mad Max: Fury Road« 2015 die männliche Titelfigur zum bloßen Helfer der tonangebenden Heldin wurde. Jodie Whittakers Erfolg als Doctor (in Staffel 12 ist sie wieder dabei) wird hoffentlich dazu beitragen, dass das keine Ausnahmen bleiben und es bald nicht mehr nötig sein wird, über das Geschlecht von Actionhelden zu diskutieren.
Norma Schneider hätte auch gerne ein Zeitmaschinenraumschiff
Der Bezahlsender Fox startet am 31. Januar um 21 Uhr mit der Ausstrahlung der 11. Staffel von »Doctor Who« in Deutschland.