Ilse Bindseil über Gillette und die Frauenbewegung
Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, eine 68er und eine postmoderne Seele. Die erstere war lange Zeit verstummt – zu viele peinliche Erinnerungen an meist männliches Charisma, Begriffsfetischismus und Ableitungswahn. In jüngster Zeit rumort sie wieder öfter, und in den letzten Tagen tönt es wie ein Stimmchen aus dem Off: »Anzeige, Anzeige!« Es geht um Gillette, nicht um Kritik an traditioneller Männlichkeit, sondern um die Reklame. Das neue Männerbild, das Gillette nun angeblich propagiert und damit rechte Herren zum Schäumen bringt, ist Aufguss einer gesellschaftlichen Debatte zum Zweck des Verwertungsinteresses von Gillette, formal ein Verschnitt, und kann ohne dieses Verwertungsinteresse, und zwar in klarer Anbindung des sekundären Themas an das primäre Profitinteresse, gar nicht beredet werden.
So können nur 68er reden? Na, wenn schon. Es wird nämlich mächtig geredet. Zwar hat Gillette in seiner Reklamestrategie immer schon auf die Männerbildproduktion, nicht in Wildwestmanier, sondern in einer quasi theoretischen Dimension, als Erziehung, gesetzt. Beim aktuellen Clip scheint die Schraube aber noch einen Millimeter weitergedreht in Richtung eines Verzichts auf ästhetische Autonomie zugunsten einer gesellschaftlichen Unmittelbarkeit, in der der Unterschied zwischen ökonomischen und sozialen Interessen, damit auch der Unterschied zwischen − wie hieß es früher so bieder − redaktionellem und Anzeigenteil, aufgehoben ist. Da die Reklame wie ein soziales Netzwerk daherkommt und wie ein solches empfangen wird, ist der Anteil der (hoch-)bezahlten Arbeit, die sich in ihr vergegenständlicht, vergleichsweise gering, den Löwenanteil erledigt unbezahlt die Community. Wenn man einen Schuldigen benennen müsste, dann wäre sie es: Gillette wirbt wie eh und je, die Community hebt die Besonderheit des ökonomischen Anliegens auf.
Wie wäre es, wenn Frauen die leidenschaftliche Debatte über das mögliche Kulturwesen Mann mit dem Zwischenruf »Ökonomie!«, »Profitinteresse!« verdürben? Nicht nur der berühmte Mann auf der Straße, auch die Philosophie spielt in einer Art Parodie der Foucaultschen »Sorge um sich selbst« geistig im großen gesellschaftlichen Werbeclip mit, anstatt, wie es ihre Pflicht wäre, sich über seine Spielregeln zu verbreiten, sie als Theorieinstrument über die ihm immanente Theorie! Slavoj Žižek etwa, der sich in dem seinem Text »Mannsein als Krankheit« (»Welt«, 23. Januar) beigefügten Foto als Naturwesen outet, sieht sich als Opfer gesellschaftlicher Attacken gegen »toxische Männlichkeit«, die Zivilisieren sagen und Zurichtung meinen. Mit diesem extravaganten Aperçu fängt er an und landet beim soliden Bestehenden, fängt bei sich an und landet bei Merkel. Bereitet einen Boden und nennt das womöglich problematisieren, wenn nicht er, dann das Publikum. Tritt in eine Durcharbeitungsphase ein, in der er Schwäche und Stärke umeinanderwickelt, und endet mit einem erotisch gefärbten Ausblick auf ein Bündnis »mutiger Individuen beider Geschlechter, die bereit sind, zum Wohle aller Risiken einzugehen«, die womöglich nicht im Kapitalismus, sondern in der neuen Frau, »kühle ehrgeizige Akteurin der Macht, verführerisch und manipulativ«, zu suchen sind. Zu viel ferngesehen, Videos geguckt, gezockt?
Da können Frauen doch mal laut »Profit« sagen, während die Männer über Kultur debattieren. Es wäre ein Paukenschlag, ein Akt im Schauspiel »Verkehrte Welt« und von größerem Interesse als die männlichen Retourkutschen, die gleiche Parkplätze für alle fordern.
Vom Männerbild lässt sich ein Blick auf das Frauenbild werfen, der Frauen auf ihr eigenes Bild. Die vertrackte Geschichte des Frauentags, um den die allgemeine und die konkrete Lohnabhängige miteinander streiten, bietet eine hervorragende Gelegenheit dazu. Mir genügt ein Blick in Wikipedia, um mich auf dem Boden einer korrekten Selbstdefinition wiederzufinden. Trotz 30jähriger Berufstätigkeit, geht mir auf, bin ich eher eine allgemeine als eine lohnabhängige Frau. Von Rechts wegen würde ich in die »Vereinigung hauptsächlich von Hausfrauen und einigen Intellektuellen unter der Leitung von Kommunistinnen« gehören, gegen die der Mythos »von einem Streik von Textilarbeiterinnen 1857 in New York« womöglich aufgeboten wurde, um die »lutte de femmes travailleuses«, den »Kampf der Arbeiterinnen«, zu schützen, wie Wikipedia zitiert. Ich bin nun mal keine »femme travailleuse«.
Meine erste Erinnerung an Frauen als soziologische Kategorie beschwört eine Szene im hellen Wohnzimmer meiner Schulfreundin herauf. Die Mutter meiner Freundin, die zur Begrüßung aus der Küche kommt, bricht bei meinem Anblick in Lachen aus. Mit dem scharfen Fingernagel kratzt sie mir einen Zahnpastafleck von der Pulloverbrust. »Du armes Kind, deine Mutter ist ja nicht zu Hause.« Sie ist bloß Hausfrau und Beamtenehefrau, und sie tut mir ein bisschen leid. Meine Mutter ist das Anhängsel ihres selbständigen Mannes, den sie unterstützt, und ich tue der Mutter meiner Freundin leid.
Unter die Überschrift »In Lohn und Brot« gehört eine Debatte der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) am Ende der siebziger Jahre im schulischen Arbeitskreis. Zwar passt kein Löschblatt zwischen die Angestellten und Beamten, aber unversehens tut sich ein Abgrund auf. Der Sprecher, unser Mann, erklärt den verdutzten Anwesenden, darunter nicht wenige Frauen, dass die Gewerkschaft die Interessen der abhängig Beschäftigten vertritt, logischerweise aber nicht jener, die gern abhängig Beschäftigte wären. Ein solcher Standpunkt, der die Arbeitslosen in die Nichtexistenz verweist, ist weder mit unserem linken Selbstverständnis noch mit unserer Biografie vereinbar, waren wir doch gestern noch arbeitslos, und es gibt derzeit gefühlt mehr Arbeit suchende als arbeitende Pädagogen. Eine Auffassung von uns als, wie soll ich es nennen, »Körperschaft« ist uns nicht nur, sondern macht uns auch fremd. Wir sind ja keine Industrie, bloß die Schule, und die GEW ist auch nicht die IG Metall. Eigentlich gilt für sie: Je weniger industriell sie ist, desto radikaler darf sie sein. Die Logik des vor dem antiautoritären Hintergrund reaktionären gewerkschaftlichen Standpunkts habe ich mittlerweile verstanden: Lohnungleichheit ist kein Symbol, sondern eine Tatsache. Wenigstens am 8. März würde ich mich für die Tatsachen stark machen, wenn schon die restlichen 364 Tage für die Symbole.
Ilse Bindseil