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Gebrochene Männlichkeiten

In die Medienbilder der Gelbwesten mischen sich die Krisenerzählungen von Édouard Louis und Michel Houellebecq.

Von Jule Govrin

Fasziniert feiern manche Stimmen im Feuilleton Houellebecq als »Kassandra der europäischen Literatur« (»Jungle World«) und betrachten den neuen Roman Serotonin als Voraussage der Gilets Jaunes. Unzweifelhaft ist Houellebecq ein scharfsinniger Seismograf sozialer Spannungen, doch bei weitem kein Prophet, obwohl er sich selbst als solcher stilisiert wie in der Dankesrede zum Frank-Schirrmacher-Preis. Auch wenn manche seine politischen Kommentare als hyperironische Medieninszenierung banalisieren, lässt er weiterhin keinen Zweifel an seinem rechten Weltbild. Damit erweist er sich zugleich als gewiefter Medienstratege, der kalkuliert Provokationen platziert, um seine Publikationszahlen zu steigern. Vor der Veröffentlichung von Serotonin verkündete er im »Harper’s« seine Sympathien für US-Präsident Trump, wohl wissend, dass der Aufschrei die Aufregung um den Roman schüren würde.

Louis, 26 Jahre alt, war Schüler des Soziologen Didier Eribon und hat seinen ersten Roman Das Ende von Eddy an dessen Essay Rückkehr nach Reims angelehnt; mit dem Philosophen Geoffrey de Lagasagnerie hat er ein Manifest zum politischen Umdenken veröffentlicht.

Die neuen Romane von Houellebecq und Louis erschienen flankiert von ihren politischen Kommentaren. Während Houellebecq Trumps nationalen Protektionismus lobte, solidarisierte sich Louis mit der Protestbewegung der Gelbwesten. Derartige Äußerungen der Autoren rahmen die Rezeption ihrer Romane, doch so sehr die posture, die Haltung eines Autors, die Wahrnehmung seines Werkes prägt, so eigenwillig bleibt Literatur und bietet Lesarten, die über dessen Weltsicht hinausgehen.

Florent-Claude, ein Prototyp aus der Produktserie Houellebecqscher Protagonisten, lebt wohlsituiert als Agraringenieur in Paris und leidet an sich und am Leben. Er entscheidet sich, die ihm fremde Wohnung, die ihn befremdende Freundin zu verlassen und sich aus seinem Leben zu stehlen. Seine Flucht beginnt in einem Hotel an der Place d’Italie, wo er sich als kettenrauchender Dauergast niederlässt. Er fängt an, ein Antidepressivum einzunehmen, das sich auf seine Libido niederschlägt. Doch der Libidoverlust löscht den Weltekel nicht aus. Florent- Claude flieht weiter, aus Paris heraus in die Peripherie, auf den Gutshof seines alten Freundes Aymeric. Der versucht den bäuerlichen Betrieb mit allen Kräften aufrechtzuerhalten, scheitert aber an strukturellen Problemen der Agrarindustrie und ruft schließlich zum Aufruhr auf. Dort, bei den Milchbauern in der Normandie, kreuzen sich die Lastzüge mit importierter Milch, die die regionalen Supermärkte beliefern, und die wenigen Laster, mit denen die Produktionsstätten vor Ort vergeblich versuchen, ihre Erträge zu exportieren. Hier zeigen sich die Absurditäten globaler Wirtschaft, die in Frankreich zur Verarmung in Landregionen führt. Die andere Seite der Globalisierung blendet der Autor aus: die ausbeuterische Agrarindustrie im globalen Süden und damit die Gesamteinsicht in ein Wirtschaftsspiel, bei dem nur Großkonzerne gewinnen.

Erfolgreich in ländlichen Regionen ist dagegen der »authentische« Tourismus, stellt Florent-Claude fest, als er die Hotels bewertet, die er mit akribischer Sorgfalt aus Reisestrecken auswählt. Ausgerechnet Franco im faschistischen Spanien sei der »Erfinder des Wohlfühltourismus«, weil es ihm gelang, eine Tourismusreform zu etablieren, die mit Atmosphären des Authentischen arbeitet. Heutzutage äußere sich das in Dienstleistungsritualen wie demjenigen, Gäste mit warmen Keksen zu begrüßen, um ein Gefühl von Heimeligkeit zu erzeugen. In Zeiten der Vereinzelung birgt der Konsumzauber des Authentischen affektive Sogkraft. Es ist eine Stärke Houellebecqs, solche ästhetischen Marktstrategien feinstofflich zu fassen. Obwohl er den faulen Zauber durchschaut, hegt Florent-Claude das Verlangen nach authentischem Landleben mit lieblicher Gattin und versteift sich darauf, die Spuren einer alten Liebe zu verfolgen. Er spürt sie in ihrem Herkunftsdorf auf, beobachtet sie, wägt sogar ab, ihren Sohn zu töten, um sich ihr ohne Hindernis annähern zu können. Doch als Houellebecqscher Protagonist fügt er sich seinem Schicksal, vereinzelt die Tage seines Restlebens abzuzählen.

In Form eines Briefes an den Vater lässt Louis Bilder seiner Kindheit vorbeiziehen. Während Das Ende von Eddy (konkret 5/14) seine soziale Bewegung vom Arbeitermilieu im Peripheren ins intellektuelle Milieu der Metropole beschreibt, liegt der Fokus des neuen Romans Wer hat meinen Vater umgebracht auf dem Weg des Vaters. Louis schreibt dessen Geschichte als Körpergeschichte, als Geschichte der Gewalt, die dem Vater durch sozialstaatliche Sparmaßnahmen der Regierungen zugefügt wurde. »Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen. Hollande und El Khomri haben dir die Luft genommen.« Man kann derartige Schuldzuweisungen durchaus als »politisch grob gestrickt« bezeichnen. Trotzdem kann man diese Beobachtung als politische Wahrheit begreifen, die sich im Literarischen Geltung zu verschaffen versucht.

In Louis’ Literatur erzeugt die ökonomische Gewalt des Staates gegen Menschen soziale Gewalt zwischen Menschen. Sein Vater, dessen Kindheit wiederum von den Fausthieben seines Vaters begleitet war, ist in seinen Gesten grob und gemein, doch er erspart seiner Familie die Schläge, die er selbst gewöhnt war. »Die Gewalt hat uns vor Gewalt bewahrt«, schreibt sein Sohn.

Kindheitsbilder ziehen vorbei. Er will den Vater beeindrucken und studiert einen Popsong ein, tanzt zu freudig, zu feminin, worauf sich der Vater, vor seinen Freunden beschämt, abwendet. Als sein Vater noch jung war, brach er die Schule ab, um schlechtbezahlte Fabrikarbeit zu leisten. »Früh von der Schule abzugehen, war für dich ein Männlichkeitsbeweis und in deiner Welt zudem die Regel.« Um sich nicht als Verlierer zu fühlen, verdammt er Bildung als mädchenhaft und traktiert sich selbst und seinen wissbegierigen Sohn mit Vorstellungen von Virilität.

 Während Louis’ Vater in der Hypermaskulinität die Scham des Scheiterns kaschiert, trauert Florent-Claude darüber, dass seine Männlichkeit obsolet geworden ist. Wirtschaftlich ist er gut gestellt, verfügt über eine gute Ausbildung sowie ein entsprechendes Erbe. Derart ausgestattet mit monetärem und kulturellem Kapital kann er seinen lebenslangen Rückzug rechnerisch durchplanen: Es geht hier nicht um ökonomische Ungleichheit, sondern um den symbolischen Verlust von Männlichkeit. Das zeigt die Figur von Aymeric, dem Aristokraten, der sich zum Anführer aufschwingt, an einer Straßenkreuzung die Importlaster blockiert, um schließlich sein Gewehr auf sich selbst anzulegen und abzufeuern.

An solch einer Passage, die zu Unrecht als Vorhersage der Gilets Jaunes gedeutet wird, zeigen sich alte Ideale in neuer Form. Nicht der Arbeiter hebt die Faust zum Klassenkampf, sondern der Adelige, dem die Verfallsgeschichte seines Stammbaums bewusst wird, als ihn seine Frau für einen Pianisten verlässt, der als Sinnbild des effeminierten Mannes im Kulturbetrieb dient. Aymeric antwortet mit einem Akt heroischer, wenn auch tragikomischer Männlichkeit. Was der Autor hier affektiv ausmalt, ist der Verlust von nationaler und kultureller Identität und männlicher Autorität.

Während bei Louis für die »Politik der Erniedrigung« der Kapitalismus verantwortlich ist, der Menschen in soziale Ordnungen sortiert, liegt die Erniedrigung in Houellebecqs Romanen darin, dass liberale Lebens- und Liebesweisen traditionelle Männlichkeitsformen obsolet machen. Florent- Claude ergeht sich in schmachtenden Geschlechterbildern vergangener Jahrhunderte und stellt zugleich pragmatische Überlegungen darüber an, wie man »Milliarden Muschis« nach physischer Beschaffenheit bewertet. Es wäre übertrieben, diese literarische Binnenperspektive als feministisch zu feiern, weil Florent-Claude sich seiner »Männerphantasien bewusst« sei, »ihnen teilweise erliegt, aber auch dagegen kämpft«, wie Doris Akrap in der »Taz« schreibt. Dennoch zeigt sich darin der Wahnwitz althergebrachter Geschlechternormen.

Während Houellebecqs Protagonisten dieses Krisenmoment als Verlustgeschichte männlicher Autorität dokumentieren, legt Louis’ Literatur dar, wie die sozial erforderte Männlichkeitsperformanz auch denen Schaden zufügt, die sich damit identifizieren. Je mehr die eigene Identität mit Scham behaftet ist, die Scham darüber, als sozialer Verlierer zu gelten, desto vehementer muss das Ich abgesichert werden, und zwar durch rigide Männlichkeit. Wenn sich der eigene Sohn zu feminin verhält, muss der Vater ihn öffentlich sanktionieren. Wenn ihn die Opernarie, die im Fernsehen läuft, zu Tränen rührt, soll ihn sein Sohn nicht sehen. Der Autor beschreibt dabei, wie wirkmächtig der Habitus ist, ein Konzept des Soziologen Pierre Bourdieu. Das mag vulgärsoziologisch und auch sozialromantisch anmuten, dennoch vermag Louis, die Möglichkeit eines habituellen Bruchs zu erspüren. Nicht nur den Bruch des Sohns, auch den des Vaters, der sich beigebracht hat, stolz auf seinen Sohn zu sein, der inzwischen als schwuler Schriftsteller bekannt ist. Und dieser Sohn versucht, seinen Vater zu sehen – als gebrochenen Menschen, dem die Möglichkeit, ein anderer zu werden, zeitlebens versperrt war.

Solche mikrosoziologischen Momente des Aufbrechens und Aufbegehrens wie in Louis’ Literatur bleiben für Houellebecqs Protagonisten unerreichbar. Ihre Hoffnung läge darin, in die nostalgische Nestwärme der rigiden Geschlechterrollen zurückzukehren, doch dieser Weg ist ihnen in der zynischen Zerfallsgeschichte verwehrt. Während Houellebecq die Sehnsucht nach nationalen und geschlechtlichen Autoritätsstrukturen offenlegt, erzählt Louis von deren Gewalt, um diese aus dem Literarischen heraus anzufechten.

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. Aus dem Französischen von Heinrich Schmidt-Henkel. Fischer, Frankfurt a. M. 2019, 80 Seiten, 16 Euro

Michel Houellebecq: Serotonin. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. DuMont, Köln 2019, 330 Seiten, 24 Euro

Jule Govrin ist Autorin von Sex, Kapital und Unterwerfung. Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken (Assemblage)

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