Olaf Kistenmacher über eine Wende im Fall Wolfgang Seibert.
Im Fall des ehemaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert, gibt es eine Wende. Im vergangenen Jahr hatte der »Spiegel« in einer großaufgemachten Enthüllungsstory behauptet, Seibert sei ein Betrüger, seine Großeltern seien keine Überlebenden von Auschwitz, er könne kein Jude sein. Seibert hatte widersprochen, die ganze Geschichte schien unglaublich – zudem enthielt der »Spiegel«-Text infame Falschaussagen (siehe konkret 12/18).
Nun erklären Nina Röttgers und Johannes Spohr auf dem Blog »Preposition«, eine weitere Zusammenarbeit mit Seibert sei nicht mehr »tragbar«. Seibert habe sich »eine Familiengeschichte angeeignet «, die nicht auf »seine eigenen Verwandten zurückgeführt werden« könne. Gegenüber konkret wollte sich Seibert selbst zu diesem Vorgang nicht äußern.
Röttgers und Spohr haben von 2014 bis 2017 in mehreren Städten Veranstaltungen mit Wolfgang Seibert und Klaus Miklós Rózsa moderiert. Daraus ging das Buch Verheerende Bilanz: Der Antisemitismus der Linken hervor, das nun nicht mehr neu aufgelegt wird.
Sich als Kind von Shoah-Überlebenden auszugeben, ist ungeheuerlich. Allerdings wird die Frage, warum Menschen so etwas machen, weiterhin unbeantwortet bleiben.
Der »Spiegel« hatte es so dargestellt, als profitiere man in Deutschland durch eine jüdische Biografie, als wäre man als Jude »unangreifbar«. Seibert war 15 Jahre Vorsitzender einer bescheidenen Gemeinde und genoss eine gewisse Reputation in einem Teil der linken Szene. 2011 wurde er öffentlich von einem Islamisten mit Mord bedroht. Soviel zu seinem Gewinn.
Als Binjamin Wilkomirski, der sich als Shoah-Überlebender ausgab, 1995 seine angebliche Autobiografie Bruchstücke veröffentlichte, erhielt er – bis die Wahrheit herauskam – international Anerkennung. Sein Buch wurde als Versuch gelobt, eigene frühkindliche Verfolgungserfahrungen zu beschreiben.
Es nutzt Menschen, die sich eine solche Geschichte aneignen wollen, dass die Biografien von Shoah-Überlebenden und ihren Nachfahren oft unglaublich scheinen. Wie die von Klaus Rózsa: Seine Mutter überlebte knapp ein Handgranatenattentat der ungarischen Pfeilkreuzler, 1956 flohen seine Eltern mit ihm in die Schweiz, wo er als Zweijähriger katholisch getauft wurde. Erst 1993 erzählt ihm sein Vater während einer Autofahrt durch Bayern, dass er Häftling des KZ Dachau gewesen ist. Kein Wunder, dass neben solchen wahren Biografien die Lügen anderer glaubhaft scheinen.
Olaf Kistenmacher