Fluch des Journalismus, ein Ereignis melden und kommentieren zu müssen, ohne schon zu wissen, wie es sich zugetragen hat. Weil das aber eh nie herauskommt, ein paar Fragen:
In welchem Kodex welchen internationalen Rechts ist die Veröffentlichung geheimer Dateien, die die Tötung von Zivilisten (durch amerikanische Truppen in Afghanistan und anderswo) dokumentierten, eine Straftat – und nicht etwa ein Grund, dem Anzeiger des Verbrechens sämtliche humanitären Preise zu verleihen (den allzu albernen Friedensnobelpreis einmal ausgenommen)? Wohin ist der alles dominierende Vorwurf gegen den Wikileaks-Gründer, er habe zwei Schwedinnen vergewaltigt, verschwunden? Hat seine Schuldigkeit getan, kann gehen?
Womit haben die USA den ecuadorianischen Präsidenten Moreno erpresst, Assange auszuliefern? Mit einer Ausweitung des Kriegs gegen Venezuela auf Ecuador? Wie ein Imperium noch die Aufsässigsten seiner Lakaien dazu bringt, ihre eigene Scheiße zu fressen, ist auf Youtube bei der knapp dreiminütigen Suada des ecuadorianischen Außenministers vor der Presse in Quito zu besichtigen, dass sein Land »in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht« handele, wenn es gegen Julian Assange vorgehe. Ersetzt vier Klassen Leistungskurs Gemeinschaftskunde.
Letzte Frage: Hat Assange die Chance, seine demokratisch-rechtsstaatliche Befragung zu überleben? Fragen Sie Carl von Ossietzky. Ob Julian Assange dem einen als dessen Nachfolger erscheint oder vielen anderen nicht, weil er aus seinem Londoner Knast doch zuviel reaktionären, gelegentlich faschistischen Mist in die Welt gepustet hat: Für die Rechte einer wehrlosen Menschheit hat er mit seinem »Verrat« mehr getan als alle seine Feinde. Und wenig genug gegen das, was die Achsen des Guten täglich an der Menschheit verbrechen.
Ende März brennt auf dem Cover des »Spiegel« ein riesiges Hakenkreuz. Doch kein empfindsamer Pressegroßhändler behindert die Auslieferung der Ausgabe, keine Anwaltskanzlei identifiziert ein »Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen« und rät dazu, das Heft aus den Verkaufsregalen zu verbannen.
Anders im Oktober 2018, als konkret titelte: »Deutschlands Nazis. Die Schläfer erwachen« und zur Illustration die Krawatte eines deutschen Nazi-Führers zeigte, die das Versandhaus Amazon bekanntlich als »Krawatte Alexander« vertreibt und eine »stilsichere Alternative zum Mode-Diktat des Mainstreams« nennt. konkret hatte allerdings die zur Tarnung notdürftig auf den Binder gebügelten Hundebildchen entfernt. Dass sich darunter Hakenkreuze verbargen, wer hätte es ahnen können?
Weil aber konkret den gleichen Fehler kein zweites Mal macht, verzichtet das aktuelle Titelmotiv auf jedes »Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen«. Die Redaktion bedankt sich dafür beim Verein Gesicht Zeigen!, der konkret freundlicherweise gestattet hat, das Motiv seiner Kampagne »Der Faschismus erobert das Netz. Lasst uns das stoppen!« auf dem Titelbild zu verwenden.
Der konkret-Witz des Monats, Mai 2019:
Klöckner fordert mehr Tierschutz
Nachricht des Zweiten Deutschen Staatsfernsehens über seine Agrarministerin Julia K., CDU.
Dass »Spiegel«-Leser »mehr wissen« war immer nur Werbung und also gelogen. Wahr ist, dass der »Spiegel«-Redakteur weniger weiß, und fraglich nur, ob er nicht wissen darf, nicht kann oder nicht will. Oder ob er sich einfach mit dem Lesen zu schwer tut? Da war im Dezember 1989 irgendwo zu lesen: Was wird folgen auf den realen Sozialismus? … Dass das Ende des realen Sozialismus nicht nur keinen Anfang eines anderen, besseren, sondern auch nicht den Beginn bürgerlicher Demokratie bedeutet … Lange werden die Sowjetbürger, die Polen und Ungarn sich weiteren sozialen Abstieg nicht gefallen lassen wollen. Sie werden nach neuen Führern rufen und, weil zurück zu den alten kein Weg führt, rechten Populisten nachlaufen – die Polen irgendeinem klerikalen (und, aus alter katholischer Tradition und aus neuer Enttäuschung übers US-Kapital, natürlich auch: antisemitischen) Faschisten, die Ungarn einem Nikolaus Horthy II. aus der Pfeilkreuzler-Dynastie; was die Letten, Litauer, Esten, Ukrainer, Armenier, Moldawier, Kirgisen, Aserbeidschaner etc. noch alles für sich und gegeneinander treiben werden, Kriege mit modernsten Waffen eingeschlossen, wagt wohl selbst Gorbatschow sich nicht vorzustellen.
Zwanzig Jahre brauchte die zweihundertköpfige Redaktion des »Spiegel«, um im März 2019 diese Wahrheit – nicht – herauszukriegen:
Reformbilanz nach den Maidan-Unruhen – Der ukrainische Teufelskreis. Seit dem Ende der Sowjetunion sind die Ukrainer verarmt, die Wirtschaft ist 30 Jahre kaum nennenswert gewachsen. Die Revolution sollte das ändern – doch Schlüsselbereiche bleiben fest im Griff. der Oligarchen. Wie kann das sein?
Die Antwort steht in einer anderen Posse (von Johann Fürst): »Meinen Namen werdet ihr nie erfahren – ich bin der Kaiser Josef. « (Siehe aber auch die anfangs zitierte Kolumne aus konkret 12/89.)
Aus einer »Großen Kaufbefehlsverordnung« der »Titanic«:
Genau fünf Jahre nach dem Tod des radelnden Poeten und -Kolumnisten sowie 80 Jahre nach seiner in Böhmen stattgehabten Geburt hat der konkret-Verlag Tomayers German Poems wiederaufgelegt, einen Band, der in seinem grimmig-fröhlichen Kurzschließen des Aktuellen mit dem Ewiglichen, in seiner ungezwungenen Multilingualität und orthografischen Lässigkeit den heutigen Twitter-Poeten schon anno Snow zeigte, wo der Pegasus den Most holt … Vielleicht ist Horst Tomayer deswegen so gut, weil sein Pathos mindestens zu 85 Prozent echt und ernst ist: Die Witze, mit denen er sich immer wieder selbst ins Wort fällt, nehmen seiner Zornwucht gar nichts, sind eher so etwas wie die zweite Luft beim Höllenritt auf dem Stevens-Bike … Kenner dieser Rubrik müssen nicht daran erinnert werden; allen Jüngeren sei Tomayer brennend nachempfohlen.
Die German Poems (konkret texte 73, 124 Seiten, mit Bildern von Ernst Kahl, 15 Euro) sind ab sofort wieder lieferbar. In ihrem Horst-Tomayer-Abend »Das Wort Hottes « lesen konkret-Redakteurin Marit Hofmann, Tomayers Schauspielkollege Christoph Hofrichter und Hottes Leibregisseur Fritz Tietz auch aus diesem lyrischen Hauptwerk; die Multimediashow kann über die Redaktion gebucht werden.