Interview mit Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah über die von ihnen herausgegebene Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum, Horst Seehofer und transfeindliche Antideutsche
konkret: Ist euer Buch als direkte Antwort auf Seehofers Heimatministerium entstanden?
Fatma Aydemir: Wir haben zunächst einmal festgestellt, dass es in Deutschland kaum Anthologien gibt mit verschiedenen Perspektiven auf Rassismus und Sexismus. Und das fanden wir schade.
Es soll also keine Antwort auf Seehofer sein?
Hengameh Yaghoobifarah: Na ja, Seehofer ist Symptom eines verrottenden Systems. Ein bisschen wie Trump. Er ist kein Auslöser.
Aydemir: Wenn Seehofer sagt, Migration ist die Mutter aller Probleme, wenn er sagt, der Islam gehört nicht zu Deutschland, wenn er sich freut, weil 69 Menschen abgeschoben werden, vielleicht in den Tod geschickt, ist das natürlich alles sehr problematisch. Aber unser Problem heißt nicht Seehofer. Das Problem ist strukturell.
Warum hat Seehofer überhaupt das Innenministerium in Heimatministerium umbenannt? Was will er damit sagen?
Aydemir: Heimat ist ein Begriff, der viele ausschließt.
Yaghoobifarah: Seehofers Heimat, Seehofers Deutschland, ist ein Land, das viele Menschen ausschließt. People of Color (PoC) und Nichtdeutsche werden ausgeschlossen, aber das ist nicht alles. Sein Deutschland ist ein Land, in dem auch andere Minderheiten nicht zu Hause sein können, in dem Trans-Personen psychiatrische Atteste brauchen; wenn es nach ihm ginge, wäre Vergewaltigung in der Ehe immer noch erlaubt.
Was denkt ihr, wenn ihr das Wort Heimat hört? Ich denke bei diesem deutschen Wort nie an die Stadt, aus der ich komme, ich denke an Seen und Brandenburg und dünne Deutsche, die darin schwimmen.
Yaghoobifarah: Wenn ich an Heimat denke, denke ich an Terrorgruppen, an rassistische Morde, an die Neonazi-Gruppe Thüringer Heimatschutz, aus der der NSU entsprang, an die NPD, die sich als die Heimatpartei bezeichnet hat. Ich denke an Nazis.
Aydemir: Das Wort bedeutet für jeden etwas anderes. Ich bin nicht dafür, dass man es abschafft, aber wir können uns alle denken, was dieses Ministerium damit sagen will.
Yaghoobifarah: Zu Hause ist es schön, zu Hause, da kann man Bohnensuppe essen im Winter. Aber Heimat ist ein Ekelbegriff.
In Deutschland gibt es im Moment eine Welle der Nostalgie, die sich für viele Nichtweiße eklig anfühlt. Was ist das Problem mit Nostalgie?
Aydemir: Nostalgie verklärt vieles, das ist kein realistischer Blick. Deutschland zum Beispiel war nie komplett weiß, aber es gab eine Zeit, in der Nichtweiße nichts zu melden hatten.
Yaghoobifarah: Nostalgie ist ein Privileg der weißen Heteros. Denn wenn queere Menschen und PoC an früher denken, hatten sie da meistens nicht so viel zu melden.
Aydemir: Ja, für Frauen, PoC und andere Minderheiten ist es heutzutage einfacher, wir können uns vernetzen, wir können uns Gehör verschaffen. Obwohl das nicht heißen soll, dass wir es heute leicht haben. Aber früher war es noch schwieriger, weil viele unsichtbar gemacht wurden.
Ich habe auch das Gefühl, dass Deutschland trotz allem weniger rassistisch ist als im Jahr 2000, als ich hier ankam.
Yaghoobifarah: Auf jeden Fall, damals waren der Rassismus und die rassistische Sprache krass normalisiert.
Aydemir: Das N-Wort war damals Normalität. Das Internet hat auch eine Rolle gespielt, jedes Mal, wenn es dank Social Media einen Shitstorm gegeben hat, hat das die Konversation ein bisschen weitergebracht.
Yaghoobifarah: Die public awareness ist auf jeden Fall besser geworden. Diskriminierende Äußerungen haben jetzt zumindest Konsequenzen.
Aydemir: Du kannst leichter mobilisieren – das ist ein Fortschritt. Aber man darf nicht vergessen, dass die Rechten auch mobilisieren. So wie letzten Sommer in Chemnitz. Das war kein Zufall, die hatten sich organisiert.
Ich habe das Gefühl, dass die jüngere Generation mit »Migrationshintergrund« in Deutschland viel mehr Selbstbewusstsein als ihre Eltern hat. Sie reden ehrlich darüber, wie es sich anfühlt, rassistisch behandelt zu werden. Sie machen sich weniger Integrationsdruck, sie müssen sich nicht anpassen.
Yaghoobifarah: Auf jeden Fall. Wenn ich mich nur an die Zeit erinnere, als ich zur Schule ging – dazwischen liegen Welten.
Aydemir: Das ist eine globale Entwicklung. Habt ihr die Netflix-Serie »Sex Education« geguckt? Das ist so eine sexpositive Serie, richtig divers und gut erzählt. Aber was wir früher geguckt haben! Wir hatten keine Vorbilder in den Serien. Und das Frauenbild war grauenvoll.
Weiße Sozialisten werfen PoC oft mangelnde Solidarität vor. Man soll nicht über die Probleme von Minderheiten sprechen und nicht über deren Unterdrückung, sondern das große Bild sehen.
Aydemir: Das ist ein Problem der Linken, nicht nur hier in Deutschland: Sie müssen sich von patriarchalen und rassistischen Strukturen verabschieden. Sonst kann auch der Sozialismus nicht funktionieren. Ein Sozialismus, der sich nicht um Minderheiten kümmert, ist nichts wert.
Yaghoobifarah: PoC können, anders als Weiße, nicht entscheiden, ob sie mit Nazi-Gewalt konfrontiert werden wollen. Und es gibt viele weiße Linke, die Nazis werden.
Aydemir: Linke Kreise belächeln Political Correctness oft. Dabei ist das keinesfalls eine negative Entwicklung, es ist ein Versuch, bestimmte Personen weniger zu verletzen.
Yaghoobifarah: Als nichtbinäre Person habe ich viel Transfeindlichkeit und auch fatshaming aus der linken Szene und von Antideutschen erlebt. Das nervt natürlich. Aber was auch nervt: Gern wird ignoriert, dass in der Antifa sehr viele PoC, die geflohen sind, aktiv sind und waren.
Aydemir: Es ist Bullshit, wenn Linke sagen: Es ist mir egal, ob du wegen deiner Hautfarbe oder deines Genders in Gefahr bist. So einen Sozialismus braucht kein Mensch.
In deinem Buchbeitrag, Fatma, gehst du ganz direkt damit um, dass du Arbeit haben willst und deswegen den Deutschen was wegnehmen willst. »Ich will euch die Arbeit wegnehmen.« Ich sehe eine große Verbindung zwischen Rassismus und Neid.
Yaghoobifarah: Ich weiß nicht, ob Neid das richtige Wort ist. Vielleicht eher Missgunst?
Aydemir: Neid trifft es schon ein bisschen. Wenn in einer Stellenausschreibung steht, dass Frauen oder Migrantinnen bevorzugt sind, gehen alle davon aus, dass die Person den Job nur wegen Gender oder Herkunft bekommt. Aber eigentlich ist es umgekehrt: Seit jeher kriegen weiße Männer die guten Jobs, weil Weißsein und Männlichkeit mit Kompetenz verwechselt werden. Es wird Zeit, dass sich das ändert.
Interview: Jacinta Nandi
Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Mit Beiträgen von Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Margarete Stokowski, Olga Grjasnowa, Reyhan Sahin, Simone Dede Ayivi, Enrico Ippolito, Nadia Shehadeh, Vina Yun u. a. Ullstein, Berlin 2019, 208 Seiten, 20 Euro