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Die Regeln des Bedarfs

von Kay Sokolowsky

Wer wissen möchte, in welcher Gesellschaft er lebt, vertiefe sich in ein ministerielles Schriftstück - den "Referentenentwurf " zur Neufestlegung der Hartz-IV-Sätze, zum Beispiel.

Es ist derzeit viel von den abendländischen Werten die Rede. Doch stets nur von solchen, die keinen Pfifferling wert sind, wenn es drauf ankommt, die nichts kosten außer Speichel und heiße Luft. Die wahren Maximen des Westens - die freilich auch dort gelten, wo die Sonne früher untergeht -, die Prinzipien, nach denen das kapitalistische Gemeinwesen seine Gemeinheit gestaltet und die herrschende Klasse ihr Unwesen treibt, lauten: Verrotten sollen die Habenichtse in Löchern, in Lumpen gehen soll das Gelump, Schatten falle auf die Verdammten. Ihre Speise sei Abfall, ihre Verzweiflung ein Spott, das Leben, das sie fristen, ein Hohn. Nichts gebühre ihnen außer dem, was nötig ist, um nichts zu sein. Weil niemand sie brauchen kann, seien sie niemand, unsichtbar möglichst vor der Welt, unerhört in ihrer Not, ungefühlt in ihrer Schwäche, und für jede Demütigung, die wir ihnen antun, haben sie demütig zu danken. Denn wehe, sollten sie sich wehren! Dann lassen wir sie kurzerhand verhungern und in ihrer Not sich gegenseitig an die Gurgel fahren, und kein Polizist wird da sein, um sie zu hindern, kein Richter, uns dafür zu strafen.

So sagt das natürlich keine Kanzlerin und auch der Präsident des Industrie- und Handelskammertages nicht, obwohl er ihr vorschreibt, was sie verschweigt. Aber die Bürokraten im Ministerium der unfaßbaren Frau von der Leyen, diese Strategen der Verelendung sprechen das Credo der Bourgeoisie ungescheut aus. Sie wissen nämlich, was die Chefetage lesen will. Dies zum Beispiel: "Entscheidend ist deshalb, daß der Gesamtbetrag des Budgets für die Bestreitung von Verbrauchsausgaben ausreicht, um ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten." Die Unmöglichkeit, wie ein Mensch zu leben, wenn das Geld bloß hinreicht, um zu existieren, ist sowohl den Verfassern wie ihren Auftraggebern bewußt, aber sie halten die Bedürftigen ja gar nicht für Menschen. Sondern für "Einpersonen-" beziehungsweise "Familienhaushalte", die nicht essen und trinken wie ihre Almosengeber, sondern "verbrauchen", die statt Bedürfnissen einen "Bedarf" haben, die keine Individuen sind, sondern den "Regelbedarfsstufen 1 bis 6" zuzuordnen.

Der "Referentenentwurf" für das "Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch", der die Grundlage sein soll zur Neubestimmung der Hartz-IV-Sätze, ist ein Text, dessen technokratische Obszönität bloß von seiner Verkommenheit übertroffen wird. Ein Dokument der Menschenverachtung, in dem die herrschende Klasse, ihrer Allmacht gewiß, sich nicht mal mehr den Anschein von Gutmütigkeit im Umgang mit den Ohnmächtigen gibt. Vom Bundesverfassungsgericht zwar genötigt, die Methoden, nach denen die "Regelbedarfe " errechnet werden, "nachvollziehbar offenzulegen", nicht jedoch auf eine bestimmte Methode verpflichtet, wählten die Handlanger der Ministerin für Asoziales den Weg, auf dem alles beim alten bleiben kann, den kreativen Umgang mit Zahlen. Anhand der "Einkommens- und Verbrauchsstichprobe" (EVS), die das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre durchführt, zimmerten sie ein Gerüst fürs Gesetz, das juristisch, nicht moralisch Bestand haben soll. Tatsächlich läßt sich nun auf den Cent genau überprüfen, wie die Summe von monatlich 364 Euro zustandekommt, von der ein Alleinstehender künftig sämtliche Ausgaben bestreiten soll, die über Miete und Heizung hinausgehen. Ebenso transparent wird aber auch, daß hier jeder miese Kniff genutzt wurde, um auf gar keinen Fall einen Betrag zu errechnen, der die alten Hartz-IV-Sätze nennenswert übersteigt. Ganz richtig merkt die Fraktion der Linken im Bundestag an: "Mit Tricks und Manipulationen hat die Bundesregierung gearbeitet, um ein politisch gewünschtes Ergebnis zu erhalten."

Die übelste Rechenschieberei wurde bei der Auswahl der "Referenzgruppe" aus der EVS angewandt. Um nur ja keinem Bedürftigen mehr zu geben als das, was ihn knapp vorm Verhungern bewahrt, orientieren sich die neuen Sätze an jenen Armen, die das ALG II nicht beanspruchen dürfen oder wollen. Zwar behauptet das Sozialministerium auf seiner Website, es habe "das Existenzminimum vom tatsächlichen Verbrauch und damit von der Lebenswirklichkeit unterer Einkommensgruppen abgeleitet". Doch zur Referenz genommen wurden allein jene, die bereits minimal existieren, deren Armut so wirklich ist wie ein elendes Leben der Hartz-IV-Empfänger gewollt. Auf schriftliche Anfrage der Linken-Abgeordneten Katja Kipping mußte von der Leyens Staatssekretär Ralf Brauksiepe am 11. Oktober zugeben, was seine Chefin am 29. September vorm Bundestag einfach für sich behalten hatte. Das "untere Einkommensfünftel", wie sie es bezeichnete, ist weder ein Fünftel noch hat es ein Einkommen, das den Namen verdient. Bloß 19,6 Prozent der Menschen in der "Referenzgruppe", so Brauksiepe, sind Beschäftigte mit Sozialversicherungspflicht. Fast alle anderen, die den Maßstab setzen für den Regelsatz, beziehen entweder Arbeitslosengeld, sind Ein-Euro-Jobber, selbständig, Kleinrentner oder "sonstige Nichterwerbstätige". So kalkuliert läßt sich, was einer zum Leben braucht, zusammenstreichen auf das, was gerade noch zuviel zum Sterben ist, und exakt das haben die Regierung und ihre Referenten gewollt.

Da den "Leistungsberechtigten" nicht einmal die kümmerlichen Einkünfte der "Referenzgruppe" gegönnt werden, haben von der Leyens Rechenknechte alles aus dem "Regelbedarf" gestrichen, was in den avisierten Zielbetrag nicht hineinpaßt. Es ist unbekannt, ob Referenten, die solche Gesetze entwerfen, Humor im statistisch meßbaren Rahmen besitzen. Doch als sie folgende Stelle verfaßten, haben sie vielleicht doch mal gelacht, und zwar über die eigene Dreistigkeit: "Das häufig als Alternative genannte Warenkorbmodell stellt einen Ansatz dar, der sich als ungeeignet erwiesen hat. Die damit verbundene Festlegung, welcher Verbrauch von Gütern für das Existenzminimum erforderlich ist, kann ausschließlich mittels normativer Setzungen erfolgen. Hinzu kommt das kaum auf eine zufriedenstellende Art zu lösende Problem, wie die normativ festgesetzten Verbrauchsmengen mit Preisen zu bewerten sind." Nichts anderes aber als das verpönte "Warenkorbmodell" prägt auch den Gesetzentwurf - nur daß hier alle Waren aus dem Korb geflogen sind, die mit monatlich 364 Euro niemand bezahlen kann. "Normative Festsetzungen " finden sich in jedem Unterabschnitt des Konzepts - und sie waren im Groben schon da, als es darum ging, die Feindaten der EVS zurechtzubiegen.

Ein eigenes Auto? Zu teuer, raus. Ein Motorrad? Zu teuer, raus. Eine Urlaubsreise? Zu teuer, raus. Restaurantbesuche, Bahnfahrten, chemische Reinigung? Raus, raus, raus: "Die Kosten für eine chemische Reinigung dienen ... nicht der Existenzsicherung. Die Aufwendungen sind nur bei hochwertigen bzw. teuren Kleidungsstücken erforderlich" - und daß kein Hartz-IV'ler hochwertige Kleidung besitzt, dafür sorgen wir schon. In den Details dieses Textes steckt die gesammelte Herablassung und Schäbigkeit einer Gesellschaft, die ihren Ärmsten das Schwarze unter den Fingernägeln nicht gönnt, denn es könnte ja Blumenerde sein: "Schnittblumen und Zimmerpflanzen gehören nicht zum erforderlichen Grundbedarf und sind nicht existenzsichernd", heißt es im Abschnitt "Freizeit, Unterhaltung, Kultur". Und wer sich nun einbildet, er bekomme ersatzhalber wenigstens eine Rosenschere gestellt, der hat sich geschnitten: "Im System der Mindestsicherung ist die Unterhaltung eines Gartens als nicht existenzsichernd zu bewerten. Deswegen werden ... ›Nicht motorbetriebene Gartengeräte‹ nicht als regelbedarfsrelevant angesehen." Irrelevant sind ebenso Besuche bei Verwandten: Hier "wird von privaten und kostenlosen Übernachtungsmöglichkeiten ausgegangen"; Geld fürs Hotel gibt es nicht. Und wenn deine Mutter im Altersheim wohnt, dann mußt du halt sehn, wo du bleibst; im Sommer ist es unter den Brücken gut auszuhalten.

Einmal geben die Verfasser offen zu, daß sie den "Warenkorb" nicht etwa abschaffen, sondern nach ihrem Gusto neu füllen wollen, das heißt: leeren. Zur Berechnung der Regelsätze für Familien schreiben sie: "Im Ergebnis ist deshalb nur eine normative Festlegung für die Verteilung der Haushaltsausgaben auf Erwachsene und Kind im Haushalt möglich." Ihr statistischer Zauber ist eben nichts als dies: Blendwerk und Taschenrechnerspielerei. Der Wust von Zahlen soll den Schein einer objektiven Kalkulation erzeugen, doch das alles gilt nichts, wenn die "Transferleistung" dadurch teurer käme als geplant. Wenn's sein muß, ist auch "das kaum auf eine zufriedenstellende Art zu lösende Problem", die "normativ festgesetzten Verbrauchsmengen mit Preisen zu bewerten", keines mehr. So wissen von der Leyens Schnäppchenjäger ganz genau, welche Menge wieviel kostet: "Für die anzusetzenden 12 Liter Mineralwasser wurde ein Betrag von 2,99 e eingesetzt, für den Supermärkte flächendeckend eine entsprechende Menge Mineralwasser anbieten." Und sie wissen noch mehr, wenn auch nicht, wo sie besser das Maul halten sollten; ihr Eifer ist so groß wie ihr Geiz, ihre Scham so gering wie ihr Sprachvermögen: "Legt man die Preise der preisgünstigen Discounter für 1,5 Liter Mineralwasserflaschen zugrunde, ergibt sich ... sogar nur ein Preis von 1,52 e. (Es) ist also bei preisbewußtem Einkauf durchaus Spielraum für Saft oder andere alkoholfreie Getränke." Bürokraten, die so etwas schreiben, sollten sich nicht beschweren, wenn ihnen demnächst eins ihrer Verwaltungsopfer mit der Bemerkung in die Espressomaschine pißt, es habe sie mal teilhaben lassen wollen am Spielraum für andere alkoholfreie Getränke.

Aber das wird selbstverständlich nicht passieren. Die am Boden liegen, stehen vorsichtshalber nicht auf. Sie wären dann nämlich auf sich allein gestellt. SPD und Grüne haben - worauf CDU und FDP ebenso korrekt wie schadenfroh hinweisen - Hartz IV erfunden, und darum monieren die Halunken, die den Sozialstaat im Jahr 2003 beerdigt haben, Rechenfehler im Referentenentwurf, nicht die generelle Brutalität des ALG II. Die Gewerkschaften protestieren zwar. Weil sie aber stillhielten, als ein SPD-Kanzler statt der Armut den Armen den Krieg erklärte, klingt ihr Einspruch ziemlich dünn - und er bleibt so lange hohl, wie die Erniedrigung der Bedürftigen ihnen nicht mal einen Warnstreik wert ist. Und die Linken? Haben vor lauter Angst, als Staatsfeinde beschimpft zu werden, nicht den Mumm zu sagen: "Eine Gesellschaft, die so mit ihren Schwächsten umgeht, wollen wir nicht haben, die muß weg."

Das könnte freilich Wähler kosten. Obwohl Umfragen, die Emnid für "Bild am Sonntag" veranstaltet, mit der Kneifzange angefaßt werden müssen, entspricht diese hier, vom 26. September,vermutlich tatsächlich der Stimmung, die hierzulande herrscht, wenn es um die Habenichtse geht: Danach lehnen 56 Prozent aller Befragten eine Erhöhung der alten Regelsätze ab, 14 Prozent wollen sie sogar kürzen. Das spiegelt die Stimmung von Menschen, die vergessen haben, wer ihre wahren Ausbeuter sind, die die Lüge geschluckt haben, es sei selbst schuld, wer in Not ist, ein Schmarotzer, wer zum Sozialamt geht, die alte Frauen im Wald anzünden, um nicht selbst als Hexen verbrannt zu werden, die beifällig nicken, wenn ein Lemur wie der FDP-Politiker Martin Lindner in der Quatschsendung "Menschen bei Maischberger" behauptet: "Es gibt auch ein Lebensmodell, ein neues, das heißt ›alleinerziehend‹. Da werden mit drei, vier Männern zwei, drei Kinder gezeugt. Zwei, drei Männer, drei, vier Kinder - und dann gehen sie zum Amt, und da fällt ihnen schlichtweg der Name desjenigen, der die Kinder gezeugt hat, nicht mehr ein, da kommt ein Fragezeichen rein, in der Erwartung, daß die Solidargemeinschaft dann dafür einspringt." Es ist noch nicht lange her, da mußte nach solch einer Äußerung ein Politiker wieder dorthin verschwinden, wo er herkam, dorthin, wo die Sonne niemals scheint. Heute macht sich unmöglich, wer solch menschenfeindliches Gebelfer "menschenfeindliches Gebelfer" nennt.

Sahra Wagenknecht, die bei Maischberger neben Lindner, diesem Ausbund neoliberaler Schmutzgesinnung, sitzen mußte, stand leider nicht auf - weder für eine Backpfeife noch für einen eklatanten Abgang. Niemand steht mehr auf. Alle sind im Bann der Macht, die aus Lindner redet, einer Macht, die für "Herrenbekleidung (ohne Strumpfwaren)" monatlich 4,42 Euro verordnet, für "Möbel und Einrichtungsgegenstände" 10,11 Euro, für "Glaswaren, Geschirr und andere Haushaltsgegenstände" 2,04 Euro, für "Bildung" 1,39 Euro und für "Nahrungsmittel" 112,12 Euro. Alle, die sich erheben sollten, bleiben starr vor Angst hocken, lassen sich treten und fressen jeden Dreck. Das nämlich sind die abendländischen Werte.

Kay Sokolowsky schrieb in LITERATUR KONKRET 2010 über Literaten im Internet

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