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Pleiten, Pfusch & Pannen

von Oliver Tolmein

Am 30. September begann der Prozeß gegen das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker; sie soll 1977 am Buback-Attentat beteiligt gewesen sein.

Auf die Tragödie folgt die Farce, auf die in den siebziger Jahren erbittert geführten großen politischen Strafprozesse gegen Mitglieder der RAF in Stuttgart-Stammheim folgt jetzt am gleichen Ort ein Verfahren gegen die Heilpraktikerin Verena Becker, das sich als Fortsetzung der Talkshow mit den Mitteln der Strafprozeßordnung darstellt. "Buback-Mord: Riesenandrang!" titelte die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung, deren Sonderkorrespondentin Alice Schwarzer allerdings wegen des anderen, noch unterhaltsameren großen Verfahrens gegen den Wetteransager Kachelmann unabkömmlich war. Also mußte der "Spiegel" mit Michael Sontheimer ran, um ein bißchen an die großen Emotionen zu rühren: "Wer den Prozeß von Verena Becker besuchen wollte, fühlte sich in die alte Bundesrepublik zurückversetzt, in die siebziger Jahre, in denen die Rote Armee Fraktion (RAF) den westdeutschen Staat an den Rand des Notstands brachte."

Damals hatte Sontheimer, Gründungsmitglied der "Taz", noch über die Notwendigkeit von "Gegenöffentlichkeit" nachgedacht; Laptop und Handy, deren Fehlen im Gerichtssaal des Jahres 2010 er beklagt, waren noch nicht erfunden, aber Zuschauer, Medienvertreter und selbst die Anwälte wurden schon gefilzt wie heute. Was der jetzige Sicherheitsaufwand allerdings erreichen soll, ist durchaus unklar. Er hatte, glaubt man der offiziellen Version der Stammheimer Todesfälle von 1977, schon damals nicht verhindern können, daß Waffen in die Zellen geschmuggelt wurden. Zudem gibt es heute nicht mal mehr jemanden, für den man etwas reinschmuggeln könnte: Die RAF hat sich längst aufgelöst, und selbst die Angeklagte sitzt nicht mehr in Haft, seit der Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 23. Dezember 2009 den Haftbefehl gegen sie aufgehoben hat, weil aufgrund der zu erwartenden, nicht allzu hohen Strafe kein Fluchtanreiz mehr gegeben sei - der Sicherheitsstaat hat halt ein Faible für symbolische Akte.

So sinnlos der hohe Sicherheitsaufwand erscheint, so fragwürdig ist das ganze Verfahren - zumindest in der Weise, in der es betrieben wird -, und das nicht nur, weil die Anklage schon frühzeitig so zusammengestrichen wurde, daß tatsächlich wenig mehr auf dem Spiel steht als die Frage, ob Becker, wie es in einer Pressemitteilung des BGH heißt, "innerhalb der ›RAF‹ besonders offensiv die Parolen der damals in Stammheim inhaftierten ›RAF‹-Mitglieder vertrat, darunter auch den Befehl ›Der General muß weg‹."

Den der Anklageerhebung vorangegangenen jahrelangen Streit um die Frage, welche Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz die Bundesanwaltschaft einsehen darf bzw. welche nicht ins Verfahren eingeführt werden dürfen, trieben die Verfassungsschützer gleichwohl noch kurz vor der Eröffnung des Prozesses gegen ihre offensichtlich wichtige und schützenswerte Quelle Verena Becker auf die Spitze. Der "Spiegel", vom Inlandsgeheimdienst bei Bedarf stets zuverlässig und schnell informiert, berichtete, kurz bevor die Bundesanwaltschaft ihre Klage verlesen konnte: "Ende August hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Oberlandesgericht in Stuttgart mitgeteilt, daß eine erneute Aktendurchsicht zwei weitere als ›geheime Verschlußsache‹ eingestufte Vermerke zutage gefördert habe. In dem Vermerk vom 16. November 1981 heißt es, Becker und Brigitte Mohnhaupt seien ›im April 1977‹ in den Irak nach Bagdad geflogen, ›zum Zeitpunkt des Anschlags waren sie abwesend‹." Träfe das zu, wofür derzeit nichts, wogegen aber vor allem spricht, daß der Verfassungsschutz es behauptet, der sehr interessiert daran sein dürfte, daß Frau Becker nicht verurteilt wird, stünde die Bundesanwaltschaft mit leeren Händen da: Die Anklage wirft Frau Becker vor, am 6. April 1977, dem Vortag des Buback-Attentats, entweder den Tatort in Karlsruhe ausgespäht oder zwei weitere RAF-Mitglieder dort mit einem Auto abgeholt zu haben.

Kurz nach der Veröffentlichung des Berichts über die angeblich neu aufgetauchten Geheimvermerke kartete der "Spiegel" mit der schon fast drei Jahre alten, bislang durch keinerlei Indizien untermauerte Behauptung des ehemaligen RAF-Mitglieds Peter Jürgen Boock nach, Becker habe nichts mit dem Anschlag auf Buback zu tun gehabt, der Todesschütze sei der wegen Beteiligung an der Schleyer-Entführung zu lebenslanger Haft verurteilte und 1999 auf Bewährung entlassene Stefan Wisniewski gewesen. Um aus dem Schnee von gestern eine aktuelle Nachricht zu machen, wurde die Ex-RAFlerin Silke Maier-Witt mit einer zustimmenden Stellungnahme zitiert. Maier-Witt gehörte zu denen, die nach dem Deutschen Herbst ihr Heil in der DDR suchten. Im wiedervereinigten Deutschland wurde sie Friedensfachkraft und engagierte sich in Mazedonien. 2007 erläuterte sie in einem Interview mit der "FAZ" ihre neue Sicht auf die eigene und die deutsche Vergangenheit, in der RAF und SS, in der ihr Vater Mitglied gewesen war, zu einer großen, gewalttätigen deutschen Jugendgruppe verschmolzen: "Mein Vater war in der SS. Ich habe nicht herausbekommen, was er gemacht hat. Aber ich habe die Unterlagen bekommen, daß er sich mit 19 Jahren freiwillig gemeldet hat. Ich denke, auch er hat das getan, weil er zu einer Gruppe gehören wollte - um jemand zu sein, etwas darzustellen. Letztlich war das auch bei mir so. Ich wollte auch dazugehören - auch wenn man dafür das Gehirn ausschalten mußte. Auch die SS hat Terror verbreitet. Und da sehe ich eine Parallele."

Maier-Witt wurde auch über den Mord an Generalbundesanwalt Buback befragt und gab bereitwillig Auskunft:

"FAZ": Boock sagt, daß beim Mord an Buback nicht Folkerts geschossen habe oder Klar, sondern Stefan Wisniewski. Halten Sie Boocks Aussage für glaubwürdig?

Maier-Witt: Wenn Boock sagt, Wisniewski hat geschossen, dann wird er es wissen. Denn er war in der Zeit eines der führenden Mitglieder in der Gruppe. Mich wundert nur, warum er es jetzt macht.

"FAZ": Wissen Sie denn, wer der Todesschütze beim Buback-Mord war?

Maier-Witt: Ich bin ja an dem Tag, als Buback erschossen wurde, in die RAF aufgenommen worden, just an diesem 7. April in der Wohnung in Amsterdam. Wer geschossen hat, habe ich nicht gewußt. Ich habe auch nicht versucht, es herauszukriegen.

Drei Jahre später, kurz vor der Becker-Prozeß-Eröffnung, klingt das bereits ganz anders: Zwar weiß Maier-Witt aus eigener Anschauung und Kenntnis immer noch nichts, nun will sie aber just an diesem Tag von Sieglinde Hofmann, damals angeblich die Freundin von Wisniewski, in Amsterdam die entscheidenden Details erfahren haben. Was unter anderem die Frage aufwirft, warum sie damals schwieg bzw. heute redet. So genau wollen es "Spiegel" und "Spiegel-TV" von ihren Zeugen vom Hörensagen dann aber doch nicht wissen ...

Angesichts des Spektakels in der Öffentlichkeit, bei dem die Medien offenbar bemüht sind, ihre je eigene kleine Beweisaufnahme zu präsentieren, ist es sinnvoll festzuhalten, daß auch im Gerichtssaal selbst Bemerkenswertes zutage kommt - allerdings weniger über das Geschehen am und um den Tatort, sondern darüber, wie insbesondere die polizeiliche Ermittlungsarbeit ablief: Der Kriminalbeamte des BKA, der die Ermittlungen in Sachen Becker 2007 wieder aufgenommen und geleitet hat, mußte bei seiner Vernehmung einräumen, daß wichtige Beweismittel auf unerklärliche Weise verschwunden sind. Sowohl das Motorrad, von dem aus geschossen worden ist, als auch das Fluchtfahrzeug, ein Alfa Romeo, sind verschollen. Er könne "letzlich nicht nachvollziehen", wo der Fluchtwagen und die Suzuki "hingelangt" sind, erläuterte der seit 1980 beim BKA beschäftigte Beamte. Während sonst in den letzten Jahren immer mal wieder einzelne Haare oder auch winzige Gummierungsreste von Briefen wie aus dem Nichts auftauchten, um Hinweise auf angebliche Täter der RAF von einst zu geben, sind nun also wichtige Beweismittel ganz anderer Größenordnung auf genauso unerklärliche Weise verschüttgegangen. Das ist allerdings weniger überraschend, als man vermuten könnte: Von der Todesnacht in Stammheim, in deren Folge die legendäre "Spur 6" aus Andreas Baaders Zelle verschwand, die Aufschluß über die Frage "Selbstmord" oder "Mord" hätte geben können, über das Todesermittlungsverfahren Wolfgang Grams, dessen Ergebnisse auch dadurch beeinflußt wurden, daß Spuren an den Händen des Toten vom BKA durch vorschriftswidriges, gründliches Waschen vor der Obduktion vernichtet wurden, zieht sich eine Spur kriminaltechnischer, nun ja: Pannen und Versäumnisse, an deren (vorläufigem) Ende das Verschwinden zweier kompletter Kraftfahrzeuge steht.

Manches in dem Becker-Verfahren ist allerdings auch anders als in anderen RAF-Verfahren. Vor allem gibt es diesmal nicht nur den Konflikt zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung, sondern erstmals sind in einem solchen Prozeß auch Nebenkläger vertreten: der Sohn des Ermordeten, seine Mutter und ein Onkel mit ihren jeweiligen Anwälten. Ob es ihnen gelingt, mit den Mitteln der Strafprozeßordnung aufzuklären, was wirklich geschehen ist, darf man bezweifeln. Die erhaltenen Spuren werden ein solches Ergebnis kaum tragen, und Zeugenaussagen, die mehr aufklären könnten als die Mitteilungen der Zeugen vom Hörensagen Peter Jürgen Boock und Silke Maier-Witt, die dabei zudem eigene Interessen verfolgen, wird es nicht geben, solange die Gefahr droht, daß sich daran weitere Strafverfahren anschließen könnten. Vor allem aber würde eine umfassende Aufklärung verlangen, daß die Akten von damals geöffnet würden - und zwar umfassend. Außerdem müßten die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und wohl auch der Bundesanwaltschaft zu Aussagen verpflichtet werden können. Denn daß die Ermittlungen, die damals betrieben wurden, nicht einfach der Aufklärung des Geschehens dienten, sondern andere und weitergehende Ziele verfolgten, muß mittlerweile auch annehmen, wer keinen Verschwörungstheorien anhängt und kein Freund ausufernder Erzählungen darüber ist, was Geheimdienste alles können und wollen (sollen).

Oliver Tolmein schrieb in KONKRET 10/10 über den Umgang der deutschen Justiz mit Sexualstraftätern.

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