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"Sie müssen was gesehen haben"

von Kendra Eckhorst

Interview mit der Künstlerin und Musikerin (FSK) Michaela Melián, die mit ihrem Kunstwerk "Memory Loops" einen virtuellen Ort des Gedenkens geschaffen hat

Über die Internetseite www.memoryloops.net kann man mehr als 400 Audiodokumente zu den NS-Verbrechen anhören und herunterladen. Die Collagen aus Stimmen und Musik sind thematisch mit verschiedenen Orten einer virtuellen Karte der Stadt München verbunden. Mit Hilfe der Tondokumente, die alltägliche Begebenheiten, Auszüge aus Briefen, Nachrichtenmeldungen oder Tagebucheinträgen enthalten, macht die Künstlerin die alltägliche Wirklichkeit des Nationalsozialismus in besonderer Weise erfahrbar. Mit ihrem Projekt hatte Melián den Kunstwettbewerb "Opfer des Nationalsozialismus - Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens" gewonnen.

KONKRET: Quer durch die Parteien und die Medien wurde Ihr Entwurf 2008 verrissen, unter anderem auch "als Sponsorgag eines Mobilfunkbetreibers" bezeichnet. Haben Sie Ihr Konzept überarbeitet?

Michaela Melián: Das war ärgerlich. "Man kann irgendwas auf dem Handy anhören" trug sich als "stille Post" aus der Jurysitzung heraus, das wurde von einem Stadtrat politisch instrumentalisiert. Der Druck ist schwer auszuhalten, wenn Künstler letztlich stellvertretend für eine Öffentlichkeit, einen Staat, das Gedenken organisieren sollen. Ich biete jetzt einen niedrigschwelligen Zugang an und gehe dahin, wo sich alle tummeln: ins Internet. Dadurch ist es aber komplexer geworden. Statt nur Applikationen für das Handy zu programmieren, die schnell technisch veraltet wären, suchte ich eine Form, die einer analogen Technik entspricht. Die Website als Plattform und Speichermedium kam als Herzstück hinzu. So entsteht ein Gebäude virtueller Art, das auf andere Weise einlädt, sich mit Geschichte zu beschäftigen.

Was ist auf den Tonspuren zu hören, die die Besucher/innen der Website abspielen und in eigenen Playlists zusammenstellen können?

Zeitzeugnisse und Dokumente, die neu eingesprochen und mit Musik unterlegt sind. Die Idee war, eine gleichwertige Produktion herzustellen, da zum einen viele Leute schon tot sind und die Quellen in unterschiedlichster Qualität vorlagen. Zum anderen gab es manchmal nur das geschriebene Wort wie in Briefen.

Gab es Auswahlkriterien?

Ich holte verschiedene Menschen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, an einen Tisch und bekam von ihnen Hinweise. Was ist wichtig? Und für mich interessanter: Was ist der Allgemeinheit nicht bekannt? In einem Arbeitskreis recherchierten wir das Material. Die meiste Arbeit hatten wir mit den Audio- und Filmquellen, die uns auf wenig bekannte Geschichten stießen. Zum Beispiel interessierte sich die Politik nach 1945 nicht dafür, Dachau, das erste KZ auf deutschem Boden, zu einer Gedenkstätte umzubauen. Daraufhin interviewten sich die Überlebenden gegenseitig, um überhaupt ihre Stimmen festzuhalten. Diese frühen Erzählungen sind anders als die der Menschen, die ich heute in Gedenkbüchern, Zeitungsartikeln oder bei Führungen fand und mit ihren 90 Jahren interviewte. Auch ein Grund, die Quellen neu einzusprechen: Die Leute waren damals jung und erzählen nicht heute als Großeltern von ihrer Jugend. Es bekommt plötzlich eine andere Nähe, wenn eine junge Person spricht.

Sie haben auch Tonspuren von Tätern aufgenommen.

Ich habe Stimmen von Leuten, die etwas beobachtet haben, von Täterkindern und von Polizisten. Stimmen von SS-Männern habe ich in Archiven gefunden. Sie sind gleich bearbeitet und einer Person, einer männlichen und einer weiblichen Stimme, zugeordnet. Hauptsächlich finden sich hier die ambivalenten Aussagen des Nachbarn oder der Freundin, die eine noch heute weit verbreitete Position besetzen: "Wir haben es gar nicht gemerkt. Plötzlich waren sie weg."

Warum keine Namen?

Wer spricht, soll nicht ersichtlich sein. Die Spuren bezeichnen Orte wie das Polizeipräsidium von München. Aber man erfährt erst mal nicht: Spricht hier ein Sinti, der verhaftet wurde, ein Kommunist oder der Sohn eines Polizisten? Man muß es sich anhören. Ich wollte es den "Besuchern" nicht zu leicht machen und zeigen, wie viele Stimmen, nah nebeneinander und gleichzeitig, zu einem Sachverhalt, an einem Ort, vorkommen. Da es unendlich viele Möglichkeiten gibt, die Tracks zu kombinieren, bleibt die Erzählung nie gleich.

Bleiben strukturelle und ideologische Momente des Nationalsozialismus außen vor?

Über Gesetze, Zeitungsartikel oder Briefwechsel zwischen Nazibehörden wird die Politik hörbar. Diese Dokumente lesen Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 13 Jahren ein, denen man es schon zumuten kann, gerade wenn es um die Bewertung von Rasse, Deportation und Vernichtung geht. Auf die Idee kam ich durch einen Bericht eines ausländischen Jugendlichen, der im Opernchor sang. Er erzählt von den Übergriffen auf die Synagoge, die er während der Pogromnacht gesehen hat. Für mich eine Schlüsselerzählung. Es war ein Festtag, an dem man des Hitlerputsches 1923 gedachte, und sämtliche große Theater waren ausgebucht; es gab Kabarett, Tanzveranstaltungen und zu der Zeit noch 300 Kinos in München. Ein Kind liest nun das Veranstaltungsprogramm der Pogromnacht vor, ein Acht-Minuten-Track, der für sich selbst spricht. Man weiß jetzt, daß viele spätabends unterwegs waren, und sie müssen was gesehen haben. Auf diesen Punkt wollte ich hinsteuern.

Verharmlosen Kinderstimmen nicht die Aussagen?

Ich wollte keine Sprecherstimmen, wie man sie aus Dokumentarfilmen kennt. Ich halte es nicht aus, wenn Erwachsene beispielsweise die Briefe von Martin Bormann, dem Leiter der Reichskanzlei der NSDAP, an Hitler lesen, mit einer Betroffenheit oder einer schauspielerischen Nazibetonung. Wenn Kinder diese Sprache lesen, bekommt es eine unglaubliche Härte. Allein dadurch, daß sie noch kein Handwerkszeug haben.

Sie arbeiten weniger mit persönlichen Biographien und emotionalisierenden Schicksalen, wie es der Erinnerungskultur immer wieder vorgeworfen wird. Was ist Ihnen statt dessen wichtig?

Ich will auch Strukturen in ihrer zeitlichen Kontinuität aufdecken. Schon seit der gescheiterten Räterepublik 1919 verfolgte die Polizei eine faschistische Politik, die sich in Übergriffen auf Homosexuelle, Verfolgung von Sinti und Roma und antijüdischen Maßnahmen ausdrückt. Genauso wichtig war es mir, die Zeit nach 1945 zu beschreiben, die Ministerien, Behörden und Polizeistationen, in denen Widerstandskämpfer nur unter größten Schwierigkeiten einen Job bekamen oder rehabilitiert wurden. Aber es gibt Ausnahmen, Erzählungen, die Namen brauchen, wie der Antihomosexuellenparagraph 175 gezeigt hat. Es gibt nur die Polizeiakten, selbst die Familien erzählen nichts, da dieser Paragraph so lange noch in Kraft war. Auch aus aktuellen Debatten über die Stolpersteine habe ich Hörstrecken zusammengebastelt.

Wieviel künstlerische Abstraktion ist nötig und erlaubt, um dennoch ein Erinnern zu ermöglichen?

Darf man sprachlich eingreifen? Wo nennt man Namen? Inwieweit adaptiert man das Material? Mit diesen Fragen schlug ich mich rum. Einerseits ist Erinnerung individuell, andererseits verändert sich die Erzählung über die Zeit extrem: Sie wird immer statischer und spricht nur bestimmte Punkte an. Zugleich steht die Frage im Raum: Was und wer wird offiziell erinnert? Was steht in den Geschichtsbüchern?

Ich erlaube mir, in die Sprache einzugreifen, ich glätte sie, da ich nicht wollte, daß man hier den jüdischen Intellektuellen und dort den kommunistischen Arbeiter hört. Ihre Eigenheiten lasse ich ihnen. Ich habe Sachen nach meinem Dafürhalten nach vorne geholt, die Autoren der offiziellen Geschichtsbücher als unwichtig abtun, die aber für mich virulent sind. Wie schleichen sich Veränderungen ein? Wie entsteht Zensur? Wie wandeln sich Wahrnehmungen von einem Tag auf den anderen? Aktuelle Fragen, gerade wenn Menschen als anders betrachtet werden. Auch Ausländerfeindlichkeit äußert sich wieder in ähnlichen Formen.

Inwiefern ist Ihre Werk, abgesehen vom Einsatz neuer Medien, eine neue Form des Erinnerns?

Es ist kein didaktischer Audiowalk, obwohl man durchaus zu den Orten hingehen und die entsprechenden Spuren hören kann. "Memory Loops" funktioniert eher wie eine Schallplatte, wie gute Musik, die viel zu erzählen weiß. Das Projekt ist stark atmosphärisch und sehr exemplarisch. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen in der Erinnerungskultur habe ich die Namen eliminiert. Einer Person wird hier nicht ihre Biographie zurückgegeben, sondern sie wird stellvertretend für viele andere, die keine Stimme haben, vorgestellt. Zudem wollte ich mit der Musik einen weiteren Raum öffnen und ein Kunstwerk schaffen, das anders funktioniert als eine Säule mit Text. Auch eine jüngere Generation soll sich eher über diese Formen auseinandersetzen und identifizieren können.

Interview: Kendra Eckhorst

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