von Michael Schilling
Was man in Deutschland unter "Generalstreik" versteht
Kein' schönre Zeit in diesem Land als wie der Herbst, wenn ein deutscher Arbeiterführer es mal so richtig krachen läßt: "Ich finde", sagte Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft der Dienstleister, "daß wir auch in Deutschland ein politisches Streikrecht brauchen". Das Verbot des politischen Streiks stamme von 1955, jetzt aber gebe es "eine vollkommen andere Situation". Der Arbeiterführer Oskar Lafontaine von der Linkspartei pflichtete dem Mann von Verdi bei: "Das Recht auf politischen Streik ist europäische Normalität."
Parolen, die den Generalsekretär der CDU, Hermann Grohe, in Rage brachten: "In einer Zeit, in der die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit sensationell zurückgeht" (beziehungsweise die Arbeitslosenstatistik einen Fälschungsrekord nach dem anderen aufstellt) "und die Arbeitnehmer deutlich mehr Lohn bekommen" (beziehungsweise fast genau so viel, wie die Inflation ihnen nimmt), "ist es geradezu absurd, über das Recht zum politischen Generalstreik zu schwadronieren. Wir sollten nicht wie Herr Bsirske in Klassenkampf-Rhetorik von vorgestern verfallen."
Was Hermann Grohe hier hat, ist recht. Was Bsirske veranstaltet, ist kein Klassenkampf, sondern Rhetorik, sein Schwadronieren ist, was Grohe es nennt und schlichteste Überlegungen zeigen: absurd.
Wenn einer - allein oder mit Freunden und Kollegen - nicht zur Arbeit erscheint, geht das den sogenannten Arbeitgeber an, mit dem er einen Vertrag geschlossen hat, und sonst niemanden. Der Arbeitgeber kann ihn wegen Vertragsbruchs kündigen. Er wird es tun, wenn nur ein paar seiner Lohnabhängigen streiken. Streiken sie alle, kann er nur noch ihren Forderungen stattgeben oder seinen Laden zumachen.
Wen der Staat zur Arbeit zwingt, ist, wie das Wort sagt, Zwangsarbeiter. Ganz einfach. Die Verabredung von Arbeitern gleich welcher Zahl, nicht zur Arbeit zu gehen, und dabei ist es ganz gleichgültig, ob sie es wegen Lohndrückerei des "Arbeitgebers" oder sozialer Schikanen seines Staats tun, ist keine Frage des Dürfens, sondern des Könnens, keine des Rechts, sondern der Macht. In Frankreich, wo den diversen Konterrevolutionen wenigstens einmal eine richtige Revolution vorausging, hat man das irgendwie im Kopf. In Deutschland, dessen Geschichte nichts als mal blutige, mal "friedliche" Konterrevolutionen kennt, existiert nicht mal eine Ahnung davon.
Bsirske, Mann der Grünen, versteht Lenins Spott über die Deutschen, die eine Bahnsteigkarte lösen, bevor sie einen Bahnhof stürmen, als Handlungsanweisung. Er braucht, wenn er einen politisch begründeten Generalstreik ausrufen will, eine behördliche Erlaubnis, mit Brief und Siegel, in dreifacher Ausfertigung. Die ihm nicht nur der Generalsekretär der CDU verweigern wird, sondern auch deren künftiger Koalitionspartner: die Grünen.