von Jörg Später
Wie erklärt sich die Liaison zwischen den kritischen Gelehrten um Herbert Marcuse und dem US-Geheimdienst im Kalten Krieg?
Vor fast dreißig Jahren gab Alfons Söllner unter dem Titel Archäologie der Demokratie in Deutschland die Deutschlandanalysen heraus, die eine Gruppe deutscher Emigranten um Franz L. Neumann und Herbert Marcuse während des Zweiten Weltkriegs im Rahmen ihrer Arbeit für den amerikanischen Geheimdienst verfaßt hatten. Für nicht wenige war dieser Fund eine große Überraschung. Marcuse, der Ende der dreißiger Jahre mit dem Institut für Sozialforschung (IfS) eng verbunden war und in den Sechzigern zu einem der Paten der Neuen Linken wurde, sollte für den Geheimdienst jenes Landes gearbeitet haben, das sich spätestens mit dem Vietnamkrieg als aggressivste imperialistische Kraft erwiesen hatte? Marcuse, der Kritiker der eindimensionalen kapitalistischen Gesellschaft und der repressiven Toleranz ihrer liberalen Repräsentanten sollte ein Agent jener Führungsmacht der westlichen Welt gewesen sein, die seine Schriften so vehement attackierte? Das Erstaunen legte sich etwas, als man sich den historischen Kontext dieser Kooperation vergegenwärtigte: Die Geheimdienstarbeit bestand in wissenschaftlichen Expertisen, und es war einigermaßen nachvollziehbar, daß sich geflohene Antifaschisten in den Dienst des Kriegs gegen Nazideutschland gestellt hatten.
Was solche Erklärungen der Liaison zwischen den kritischen Gelehrten und dem kriegerischen Geheimdienst übersahen: Marcuse und Co. blieben auch während des Kalten Kriegs, bis in die Sechziger hinein, mit dem militärisch-intellektuellen Komplex verbunden. Marcuse war ein Kalter Krieger, wenn auch kein konventioneller. Ist sein Weg von den Feindanalysen für das Office of Strategic Services während des Kriegs, danach für das State Department im entstehenden Konflikt mit der Sowjetunion, später, in den Fünfzigern, für die Rockefeller Foundation bis zu seiner Kritik der kapitalistischen westlichen Moderne Ende der Sechziger gar Ausdruck von Kontinuität? Dieser spannenden Frage geht Tim B. Müller in seiner Studie über Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg nach.
Zwei Jahrzehnte verbrachte die Intellektuellengruppe im Schatten der Geheimdienste und im Schutz des liberalen Establishments der Vereinigten Staaten. Im Kalten Krieg waren die Rockefeller Foundation und staatliche Stellen eng verzahnt. In Marcuses Fall, so Müller, erwies sich dies als die entscheidende Verbindung zwischen dem "obskuren" Exilmarxisten in den Dreißigern und dem "Guru" der amerikanischen Neuen Linken in den späten Sechzigern: Was Marcuse dienstlich produzierte, sollte sich als Grundlage des späteren Werks erweisen. Wie aber paßt nun der Befund vom Kalten Krieger Marcuse in dieses Bild?
Marcuse und das von ihm geleitete Komitee für Weltkommunismus standen der Geheimdienstführung mit Rat und Tat zur Seite und leiteten ein Abkühlungsverfahren in der heißen Phase des Kalten Kriegs ein. In der Rockefeller-Zeit brachte Marcuse dann ein Marxismus-Leninismus-Projekt als akademisch-philanthropisches Großunternehmen auf den Weg, das er in Columbia und Harvard in sein Buch Soviet Marxism (1957) münden ließ. Es ging ihm um eine Entideologisierung der Sowjetunion im doppelten Sinne: Zum einen maß er die gesellschaftliche Realität der Sowjetunion an ihrem eigenen marxistischen Anspruch. Marcuse wollte so Moskau das Deutungsmonopol über den Marxismus entreißen. Zum anderen trat er der Dämonisierung des "Weltkommunismus" entgegen. Die Sowjetunion war demnach ein komplexes Gebilde, das nach Stalin gerade nicht durch permanenten Terror zusammengehalten wurde, wie die Totalitarismustheorie behauptete. Vielmehr führten überhaupt erst Entstalinisierung und Liberalisierung zur Stabilisierung des Systems. Die Sowjetunion war in Marcuses Augen, anders als das nationalsozialistische Deutschland, also ein Gegner, mit dem man verhandeln konnte. Soviet Marxism war ein Manifest der Entspannungspolitik.
Marcuse und die anderen Gelehrten nutzten eine linke demokratische, sozialistische Nische im sich entfaltenden Kalten Krieg. Und das amerikanische Establishment hatte Verwendung für die Expertise der Randständigen. Müller bringt das Wirken der linken Gelehrten im "politisch-philanthropischen Komplex" der USA immer wieder auf die Formel der "Dialektik der Aufklärung". Diese Idee gefällt ihm so gut, daß er sie rund zwanzig Mal in Anschlag bringt. Dabei besagt sie nicht mehr, als daß Intentionen und Wirkungen nicht übereinstimmten. Oder dient "Dialektik" hier bloß als Synonym für Wechselwirkung oder Zickzackbewegung?
Das Rätsel um den Kalten Krieger Marcuse kann der Hamburger Historiker Müller ohne dialektische Zauberformeln auflösen: Der sowjetische Marxismus war eben nicht Marcuses Marxismus, ja, der Sowjetkommunismus war eine Usurpation der kommunistischen Idee. Wer es im Westen irgendwie mit dem Kommunismus hielt, mußte sich von diesem Monstrum distanzieren. Gleichzeitig verlangte die antikommunistische Hysterie in den USA nach rationalem wissenschaftlichen Widerspruch. Es gab keinen sowjetischen Monolithen, und es gab keine kommunistische Weltverschwörung. Das einte Linke mit jenen Liberalen, die trotz McCarthyismus noch welche geblieben waren. Kritische Kommunismusforschung im Geiste der Entspannung war in der Tat kein Bruch mit der Arbeit am IfS. Eher schon die Umleitung des Totalitarismusverdachts auf den "Spätkapitalismus" Ende der Sechziger, mit dem Marcuse die Welt einer von Regierung und Stiftungen geförderten Wissenschaft verließ. Hier läßt es Müller an Eindeutigkeit fehlen: Schlug der Spätmarcuse ein neues Kapitel auf, oder stand er noch in der Tradition der Kalte-Kriegs-Wissenschaft, die immer einen Praxisbezug suchte?
Müller begibt sich methodisch mit Quentin Skinner, dem Vordenker einer strukturgeschichtlich informierten Ideengeschichte, in den "Maschinenraum" des Denkens, statt auf dem philosophischen Promenadendeck zu schlendern. Er interessiert sich für das Geschäft des Denkens, die materielle Dimension, die intellektuellen Kommunikationsgefüge. Er deutet Marcuse und seine Mitstreiter folglich aus einer Perspektive, die die Verzahnung von Wissenschaft und Politik als wesentlich heraushebt. Die Logik des Kalten Kriegs erfaßte demnach beide Prozesse, die Politisierung der Wissenschaft und die Verwissenschaftlichung der Politik, wie Müller überzeugend nachweist. Die schrägen linken Figuren um Marcuse und Neumann sind dafür besser geeignet als die lupenreinen Kalten Krieger. Wie Müller seinen Untersuchungsgegenstand im Kalten Krieg verortet, ist abgesichert durch Kenntnis der Forschung und Reflexion derselben. Die Kapitel über die Entstehung einer neuen Intellectual History sind brillant.
Gleichwohl ist das Buch über weite Strecken schwer zu lesen. Es ist ein Produkt der Verwissenschaftlichung des Erzählens. Nicht die Geschichte Marcuses in Amerika leitet die Erzählung, sondern das Wissen, das sich der Autor angeeignet hat. Der Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung breitet seine Quellen und deren Kontexte in epischer Breite aus. Mitunter entfernt er sich dabei weit von seinen Kernfragen. Ausschweifungen, Schleifen und Redundanzen kosten den Leser im Laufe der 736 Seiten viel Kraft.
Tim B. Müller: Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg. Hamburger Edition, Hamburg 2010, 736 Seiten, 35 Euro
Jörg Später schrieb in KONKRET 7/10 über die gesammelten Schriften von Wolfgang Pohrt