Der Prozeß gegen den Untersuchungsrichter Baltasar Garzón zeigt, welche Wirkungsmacht der Franquismus in Spanien noch immer hat.
Von Franziska Dröscher
Seit Monaten vergeht in Spanien kaum ein Tag ohne Nachrichten über Baltasar Garzón. Der bekannte Untersuchungsrichter muß sich aufgrund einer Klage der rechtsradikalen Organisation Manos Limpias (Saubere Hände) wegen Rechtsbeugung bei seinem Versuch, eine Ermittlung in Sachen der Verschleppungen und Deportationen im spanischen Bürgerkrieg und während der Franco-Diktatur zu initiieren, vor Gericht verantworten. Garzón, der seit Mitte Mai vorläufig vom Amt suspendiert ist und seitdem befristet als Berater am Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag arbeitet, drohen 12 bis 20 Jahre Berufsverbot.
Es sind wohl die Unverblümtheit der Anklage und die vielsagende Konstellation, die dazu geführt haben, daß nicht nur die Vereine der Hinterbliebenen der Opfer der Diktatur gegen Garzóns Suspendierung protestieren, sondern in breiteren Teilen der Gesellschaft Empörung laut wird. Demonstrationen, im Internet zirkulierende Unterschriftenlisten und Solidaritätsbekundungen von Juristen und Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland zeugen davon. Daß 35 Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur nicht der Richter die Franquisten, sondern die Franquisten den Richter auf die Anklagebank bringen, lädiert das Selbstbild der spanischen Demokratie. Und so ist diesmal selbst die Berichterstattung der rechtskonservativen Zeitung "El Mundo", die sich traditionell gegen jeden Versuch der Aufarbeitung der Diktatur stellt, zumindest zwiespältig.
Garzón, der durch seine rigorosen Ermittlungen gegen den chilenischen Diktator Augusto Pinochet international bekannt geworden ist und sich in Spanien unter anderem mit Ermittlungen in Korruptionsaffären in der Politik einen Namen (und viele Feinde) gemacht hat, hatte im Oktober 2008 den ersten Versuch einer juristischen Aufarbeitung der Verbrechen des Franquismus unternommen. Konkret ging es darum, das Verschwinden von mindestens 114.226 Personen während des Bürgerkriegs und der ersten, repressivsten Phase des Franquismus zu untersuchen sowie die Existenz eines dahinterstehenden systematischen Plans zur Vernichtung und Unterdrückung der politischen Gegner nachzuweisen. Durch die Öffnung verschiedener Massengräber und die Einberufung einer Expertengruppe sollten, über die Lokalisierung und die Identität der Verschwundenen hinaus, die Umstände des Verschwindens sowie die Täter ermittelt werden. Als "mutmaßliche Hauptverantwortliche" werden in Garzóns Verfügung Francisco Franco und 35 weitere Hauptakteure des antirepublikanischen Putsches von 1936 genannt.
Die Untersuchung fand jedoch ein schnelles Ende. Die Staatsanwaltschaft warf Garzón den Versuch einer "Generalanklage" gegen den Franquismus vor und beantragte die Annullierung der Ermittlungen. Während Garzón argumentiert hatte, es handle sich bei den zu untersuchenden Straftaten um Verbrechen gegen die Menschheit, die nach internationalem Recht unabhängig von der konkreten Gesetzgebung des jeweiligen Staates verfolgt werden können, verneinte die Staatsanwaltschaft des nationalen Gerichtshofs eine solche Klassifizierung. Sie beharrte auf der Gültigkeit der Amnestiegesetze von 1977, unter die alle ab 1936 mit politischer Absicht begangenen Straftaten sowie auch die Delikte fallen, die von Angehörigen des Staatsapparats gegen die Persönlichkeitsrechte einzelner begangen worden waren. Noch bevor der nationale Gerichtshof im November dann tatsächlich die Nichtzuständigkeit Garzóns erklärte, gab dieser die Kompetenz für die Ermittlungen ab.
Gesellschaftspolitisch brisant war Garzóns Ermittlungsversuch nicht vor allem deshalb, weil er tatsächlich zu Verurteilungen hätte führen können - Garzón datiert die zu untersuchenden Verbrechen auf die Jahre zwischen 1936 und 1952 und nimmt in der Verfügung bereits vorweg, daß keiner der Hauptverantwortlichen mehr lebt -, sondern weil er mit der Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen des Franco-Regimes die Basis angreift, auf der die spanische Demokratie errichtet ist.
Nach Francos Tod und der Wiedereinführung der Monarchie 1975 hatte die immer wieder als modellhaft bezeichnete Transición zur Demokratie ohne jeden tatsächlichen Bruch mit dem franquistischen Regime stattgefunden. Als Resultat von Verhandlungen zwischen der Führungsriege der Diktatur und den Protagonisten der antifranquistischen Opposition spiegelten die Modalitäten des Übergangs die bestehenden Machtverhältnisse wider: Weder hatten die Franquisten die nötige Legitimität, einfach weiterzuregieren, noch waren die demokratischen Kräfte fähig, die Macht zu erlangen und so eine Aufarbeitung politischer Verantwortlichkeiten und einen realen institutionellen Bruch durchzusetzen. Das Ergebnis war die Einführung der Demokratie unter der Bedingung der Straflosigkeit der franquistischen Untaten und des Schweigens über die Verbrechen der Diktatur. Weder kam es zu einer Annullierung der unter Franco gefällten Gerichtsurteile noch zu einer Würdigung seiner Opfer und Gegner. Die Statuen und Straßennamen der Diktatur blieben an Ort und Stelle, und mit ihnen blieb auch das Schweigen über die 150.000 Ermordeten und Verschwundenen, über die mehr als 700.000 Exilierten und über die Verfolgung Andersdenkender, die die Diktatur auch in ihren späteren und gemäßigteren Jahren noch prägte.
Der sich durchsetzende "Pakt des Schweigens" beziehungsweise "Vergessens" wurde im spanischen Selbstverständigungsdiskurs als notwendige Voraussetzung für den Aufbau der Demokratie legitimiert. Imaginiert als "Brudermord" und kollektiver Ausbruch der Barbarei, in dem Schuld und Opfer gleich verteilt gewesen seien, wurde und wird mit dem Bürgerkrieg die Notwendigkeit der Versöhnung aller mit allen begründet, verbunden mit einem ebenso breit angelegten allgemeinen Vergeben. Um eine neuerliche Spaltung der Nation in zwei Lager zu verhindern, so das Argument, dürften keinesfalls die "alten Wunden" wieder aufgerissen werden. Dieser Diskurs, der sowohl die politische Verantwortung für das Ende der Republik - den Putsch der Franquisten - als auch die auf diesen folgende massive Repression ausklammert, behält die Verzerrung der unter Franco propagierten Geschichtsversion bei. Allerdings waren Amnestie und Versöhnung keinesfalls ausschließliche Anliegen der Anhänger des alten Regimes. Bereits Ende der fünfziger Jahre zählten sie zu den zentralen Forderungen wichtiger politischer Gruppen der Opposition, die in ihnen die Bedingungen für den Aufbau eines demokratischen Systems sahen.
Wenn Garzón in seiner Verfügung den Putsch als Delikt gegen die damals geltende Verfassung und die wichtigsten Institutionen der Nation bezeichnet, den Putschisten einen systematischen Plan zur Eliminierung der politischen Gegner unterstellt und auf das Ungleichgewicht zwischen der Gewalt, die die Anhänger des republikanischen Lagers unter Franco erlitten, und der Straflosigkeit der Unterdrücker verweist, dann greift er damit den "Diskurs der Versöhnung" an. Welches Gewicht dieser auch heute noch hat, zeigt sich daran, daß Garzón heute dafür auf der Anklagebank sitzt - ein Umstand, für den neben der Klage der relativ unbedeutenden Organisation Manos Limpias die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo) verantwortlich ist, dessen Richter zum großen Teil vom konservativen Partido Popular (PP) ernannt wurden. Garzóns Ermittlungsversuch steht allerdings nicht allein, sondern ist im Kontext einer zunehmenden Infragestellung der Mythen der Transición in den letzten zehn Jahren zu verstehen. Diese hat die Frage der Erinnerung und Aufarbeitung der Diktatur zu einem heftig umkämpften Feld gemacht.
Nachdem in den achtziger und neunziger Jahren, trotz einer langen Regierungsphase des sozialistischen Partido Socialista Obrero Español (PSOE) (1982-1996), in Sachen Erinnerungspolitik kaum etwas passiert und das Thema auch in der Öffentlichkeit kaum präsent war, spitzte sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit ab der Jahrtausendwende zu. Nicht nur die Medienberichte zum Thema, sondern auch die wissenschaftlichen und literarischen Publikationen vervielfachten sich. Es entstanden die "Vereine zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung", häufig getragen von Hinterbliebenen von Verschwundenen, die begannen, gemeinsam nach dem Schicksal ihrer Verwandten zu forschen und eine politische und juristische Rehabilitation der Opfer und Gegner des Franquismus einzufordern. Zu einem zentralen Moment der entstehenden Bewegung für Erinnerung wurden die zumeist mit sehr geringen Mitteln und ohne institutionelle Unterstützung durchgeführten Exhumierungen der Massengräber, die - ohne daß Elemente eines Spektakels sich ganz vermeiden ließen - breite mediale Aufmerksamkeit erhielten. Als unvergängliche Zeugnisse des Terrors der (frühen) Franco-Diktatur stellten die Massengräber die Glaubwürdigkeit und Stabilität des "Pakts des Vergessens" offensichtlich in Frage.
Auch auf institutioneller Ebene führten die lauter werdenden Forderungen nach einer Aufarbeitung von Bürgerkrieg und Franquismus aus der Perspektive der Besiegten zu langsamen Veränderungen, die allerdings zumeist auf der symbolischen Ebene blieben. 2002 verabschiedete der Abgeordnetenkongreß eine Resolution, in welcher der "militärische Aufstand von 1936" verurteilt und die Pflicht der moralischen Anerkennung der Opfer des Bürgerkriegs und der Diktatur anerkannt wurde. Der Beschluß wurde "historisch" genannt, nicht zuletzt, weil auch der damals regierende PP zustimmte, der sich traditionell durch ideologische und personelle Nähe zum Franquismus auszeichnet. In der ersten Regierungsphase des PSOE wurde dann sogar, allerdings gegen die Stimmen des PP, das Jahr 2006 zum "Jahr der Erinnerung" erklärt und 2007, nach anderthalbjähriger Erarbeitungsphase und wiederum ohne die Zustimmung der Konservativen, ein "Gesetz zur historischen Erinnerung" beschlossen. Darin werden unter anderem die "Illegitimität" der Gerichtsurteile unter Franco, eine institutionelle Unterstützung der Exhumierungen der Massengräber, eine Erweiterung der finanziellen Entschädigungen der Opfer des Bürgerkriegs und der Diktatur und die Entfernung von franquistischen Symbolen aus dem öffentlichen Raum festgelegt.
Neben dem PP ist die katholische Kirche ein weiterer mächtiger Akteur, der unermüdlich gegen jede kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit interveniert. Schließlich hatte die Kirche wesentlich zur Legitimierung des Putsches beigetragen und war auch während der Diktatur die wichtigste Stütze des Franco-Regimes. Weit davon entfernt, die eigene Rolle während der Franco-Zeit aufzuarbeiten, spricht die Kirche noch heute fleißig im Bürgerkrieg getötete pro-franquistische Geistliche heilig und konnte sogar durchsetzen, daß die Symbole des Franquismus in ihren eigenen Einrichtungen nicht von den Regelungen des "Gesetzes zur historischen Erinnerung" betroffen sind. Selbst der PSOE aber steht keinesfalls für eine Politik konsequenter Aufarbeitung. So wurde das "Gesetz zur historischen Erinnerung" nicht nur von rechter, sondern auch von linker Seite scharf kritisiert, weil es die Gerichtsurteile der Franco-Diktatur zwar für "illegitim" erklärt, aber nicht effektiv annulliert, die Frage nach den Tätern erneut völlig ausklammert und damit in einer Kontinuität zu den Amnestiegesetzen steht.
Im Kontext der Auseinandersetzungen um Erinnerung und Aufarbeitung in Spanien zeigt der Prozeß gegen Baltasar Garzón die Macht, die der "Diskurs der Versöhnung" sowie die gesellschaftlichen Sektoren, die ihn propagieren, heute noch haben. Gleichzeitig jedoch stellt ebendiese Machtdemonstration den Mythos der Transición stärker in Frage, als es Garzón selbst mit seinem Ermittlungsversuch vermochte. Auch wenn der PP die Eröffnung des Verfahrens gegen Garzón und die darauf folgende vorläufige Suspendierung vom Amt schadenfroh feiert, wäre es vielen Konservativen wohl lieber gewesen, es wäre bei der juristischen Ausbremsung Garzóns geblieben. Denn wie die Großdemonstration in Madrid im Mai gezeigt hat, hat der Fall Garzón der Bewegung für historische Erinnerung neuen Aufwind gebracht. Dieser könnte zum Sturm werden, sollte der Untersuchungsrichter tatsächlich verurteilt werden.
Franziska Dröscher hat in Berlin Soziologie studiert und lebt zur Zeit in Granada