Was folgt aus der Aufhebung der Tarifeinheit in den Betrieben? Von Felix Klopotek
Das Bundesarbeitsgericht hat die Tarifeinheit in den Betrieben aufgehoben. Dagegen protestierten die Gewerkschaften ebenso wie die Arbeitgeberverbände. Was befürchten sie? Und was wäre zu hoffen?
Daß die Aufhebung der sogenannten Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Juni - die Regel also, daß pro Betrieb nur ein Tarifvertrag gilt - auf Widerstand stößt, ist nicht verwunderlich: Schließlich verlieren die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften zumindest institutionell eine starke Machtposition in den Betrieben. Aber daß ausgerechnet Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt die Aufhebung vehement kritisiert, ist denn doch bemerkenswert. "Die Tarifeinheit ist eine unverzichtbare Voraussetzung für eine funktions- und zukunftsfähige Tarifautonomie", ließ Hundt Anfang Juni verlauten. "Für dieselbe Tätigkeit der Arbeitnehmer eines Betriebes kann nur ein Tarifvertrag gelten. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen wissen, welcher Tarifvertrag gilt." Der Chef der Kapitalistenverbände als oberster Fürsprecher einer starken Einheitsgewerkschaft? DGB und Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) vereint gegen die Entscheidung der Bundesarbeitsrichter?
Es müsste doch ganz anders sein: Jeder Kapitalist könnte demnächst unter Umgehung der alten Einheitsgewerkschaft in seinem Betrieb mit den ihm am meisten wohlgesonnenen Interessenvertretern der Lohnabhängigen einen maßgeschneiderten Tarifvertrag aushandeln. Die Erpreßbarkeit der Arbeiter und Angestellten - die Drohung mit der Standortaufgabe und die Ankündigung betriebsbedingter Kündigungen - würde sich potenzieren, weil das Mittel der Erpressung nicht nur vergleichsweise abstrakt und unspezifisch für eine ganze Branche bereitstünde, sondern sich demnächst individuell für jeden Betrieb einsetzen ließe. Wildwestzeiten für die "Arbeitgeber"?
Von wegen! DGB und Arbeitgeber wollen das Prinzip der Tarifeinheit möglichst rasch gesetzlich verankern, Arbeitsministerin von der Leyen hat auch schon signalisiert, nach der Sommerpause ein derartiges Gesetzesvorhaben zu prüfen. Bislang nämlich war die Tarifeinheit nicht staatlich sanktioniert; sie basiert seit fünfzig Jahren auf einer durchgehenden Rechtsprechung des BAG - das Arbeitsrecht steht zumindest in Teilen außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols. Die Möglichkeit der Schädigung des jeweiligen Tarifpartners - durch Streiks einerseits, Aussperrungen andererseits - wird in Maßen anerkannt und damit die Ausübung von Gewalt jenseits des staatlichen Gewaltmonopols. Es ist dies eine systemimmanente, verschwiegene Anerkennung des Klassengegensatzes.
Tatsächlich orientiert sich das BAG mit der Aufhebung der Tarifeinheit am Klassengegensatz: Es sieht nämlich die Koalitionsfreiheit der "Arbeitnehmer" gefährdet, gerade die Tarifeinheit - und damit einhergehend die Anerkennung eines monopolisierten, von den DGB-Gewerkschaften vertretenen Arbeitskraftkartells - droht die Interessen einzelner Berufsgruppen unterzupflügen. Das BAG folgte einer Klage zweier im Marburger Bund organisierter Ärzte - der Marburger Bund ist, etwa neben der Gewerkschaft der Lokführer (GDL), eine dieser in den letzten Jahren äußerst effektiven Spartengewerkschaften, die abseits vom DGB und auch gegen ihn harte Kämpfe geführt haben.
Die Ironie dabei: Just zu dem Zeitpunkt, wo Interessenvertretungen von Lohnabhängigen offensive Arbeitskämpfe führen, beklagten Linke die Spaltung der Einheitsgewerkschaften durch GDL oder Marburger Bund. Entgegen der gesamten Tradition der marxistischen Organisationstheorie gelten Gewerkschaften heute als Fels in der Brandung, als letzte Bastion von Arbeiterinteressen, während die (nunja: ehemaligen) Arbeiterparteien als wankelmütige, opportunistische und realpolitische Schacherer für große Verbitterung bei ihren linken Mitgliedern gesorgt haben. Viele Linke sind heute eher bereit, sich in Gewerkschaften als in Parteien zu engagieren. Als es vor vier, fünf Jahren Gerüchte gab, eine Gewerkschaft wie Verdi oder die IG Metall würde sich auch für die Interessen von prekär Beschäftigten einsetzen und fördere spontanere Arbeitskampfmodelle, gab es bis in autonome Kreise hinein einen Hype um die übrigens immer noch schwerfällig-selbstherrlichen, durch und durch bürokratischen Apparate.
Früher, sagen wir: vor achtzig oder hundert Jahren war das anders. Zentral war die Arbeiterpartei, die die klare, militante Organisationsstruktur verkörperte, ein festes Programm vorgab und über alle tagespolitischen und konjunkturellen Schwankungen hinweg das Ziel des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft nie aus den Augen verlor. Jede konjunkturelle Krise bedeutete ja eine existentielle Krise der Gewerkschaften: Arbeitslose können bekanntlich weder streiken noch Mitgliedsbeiträge zahlen. Gewerkschaften waren an eine Branche gefesselte, meistens borniert "betriebspatriotische" Interessen verfolgende Organisationen. "Die Trade Unions schließen sogar prinzipiell und statutengemäß jede politische Aktion aus und damit die Teilnahme an jeder allgemeinen Tätigkeit der Arbeiterklasse als Klasse", notierte ein genervter Friedrich Engels 1879 zu den britischen Gewerkschaften.
In den Arbeiterparteien bekämpften deshalb Marxisten vehement die syndikalistische (anarchistische) Vorstellung, ausgerechnet so ein wankelmütiges, starken Schwankungen ausgesetztes Gebilde wie eine Gewerkschaft könnte das Kampfinstrument zur Durchsetzung des Sozialismus sein. Gewerkschaften waren allein deshalb wichtig, weil sie im konjunkturellen Aufschwung die Konkurrenz der Arbeiter untereinander aufhoben, gewissermaßen die Bataillone für die große Schlacht bereitstellten. Die Programm- und Strategiehoheit lag stets bei der Partei. So die historische Situation. Für Länder mit starken kommunistischen Parteien - Frankreich, Italien - blieb diese Arbeitsteilung noch bis weit in die Nachkriegszeit gültig.
Der Aufstieg der Gewerkschaften zu befestigten Organisationen, wenn man so will: zu halbstaatlichen Apparaten, erfolgte parallel zur positiven Integration der Sozialdemokratie in das parlamentarische System. Die Sozialpartnerschaft der BRD wirkte in beide Richtungen: Die Gewerkschaften gelobten Mäßigung durch die bedingungslose Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und wurden dafür von der Kapitalseite als einzig legitime Interessenvertreter anerkannt. Man rang in zahllosen Tarifrunden zäh um Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung, aber man wollte sich gegenseitig nicht zerstören.
Nach wie vor stellen in Deutschland, unter den großen Industrienationen diejenige mit dem höchsten gewerkschaftlichen Organisierungsgrad, die Gewerkschaften die stärksten Bataillone - aber gerade deshalb, weil die Gewerkschaften staatlich anerkannt und voll integriert sind. Weil sie sich den Erfordernissen der Kapitalakkumulation unterordnen, bekommen sie im Gegenzug das Recht eingeräumt, auf dem Arbeitsmarkt als Arbeitskraftkartelle aufzutreten. Das ist die immer noch gültige Machtachse in der Sozialpartnerschaft.
Heißt das nun, daß sich im Bundesarbeitsgericht rote Zellen eingenistet haben, die durch die Aufhebung der Tarifeinheit den Klassenkampf befeuern wollen? Mitnichten, das BAG folgt nur der realen Praxis - in dieser erweist sich die Machtachse der Sozialpartnerschaft immer mehr als Anachronismus. Die Gewerkschaften verlieren seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich Mitglieder, große Arbeitskämpfe werden entweder verloren gegeben oder sind reaktiv, dienen der Verhinderung oder bloß Abmilderung von Betriebsschließungen. Sie geben Arbeitskämpfe deshalb verloren, weil Betriebsräte von großen Betrieben sich den Arbeitskampfmaßnahmen verweigern - das war zum Beispiel beim 2003 grandios gescheiterten Arbeitskampf der IG Metall zur Einführung der 35-Stunden-Woche in ostdeutschen Betrieben der Fall: Die (West-)Betriebsräte von VW und Daimler-Benz verweigerten mit fatalen Folgen für die Erfolgsaussichten des Streiks ihre Solidarität und Unterstützung. Sie waren nämlich der Meinung, die Einführung der 35-Stunden-Woche und die damit einhergehende Beeinträchtigung des Standortvorteils schade der deutschen Wirtschaft und damit auch ihrem Betrieb.
Die Zersplitterung des institutionalisierten Arbeitskampfes ist also längst Realität. Sie läßt sich nicht auf die Existenz von Spartengewerkschaften wie der GDL oder den Marburger Bund zurückführen, im Gegenteil: Die Spartengewerkschaften sind eine Reaktion auf die zunehmend geschwächten DGB-Organisationen. Hinzu kommt, daß Tarifverträge ohnehin Ausstiegsklauseln und Ausnahmebedingungen enthalten, auch dies einer der Gründe, weswegen sich einzelne Berufsgruppen nicht mehr angemessen vertreten sahen und ihre eigenen Vertretungsorganisationen aufmachten.
Daß DGB und BDI gemeinsam für die gesetzliche Verankerung der Tarifeinheit streiten, ist aber nicht nur für den DGB ein Zeichen der Schwäche: Befürchtungen von Gewerkschaftslinken, daß Spartengewerkschaften de facto als gelbe Gewerkschaften, als dezidiert unternehmerfreundliche Verbände auftreten, haben sich nicht bewahrheitet (obwohl es mehr denn je Anläufe zur Durchsetzung von gelben Gewerkschaften gegeben hat). Beim BDI herrscht immer noch die Befürchtung, das Beispiel der streikenden Lokführer werde Schule machen, sobald sich nur die institutionelle Möglichkeit böte. Mit dem Auftreten von durch innere soziale Homogenität und ein hohes Berufsethos gekennzeichneten Interessenverbänden kommt man im BDI längst nicht so gut klar wie mit den alten DGB-Monopolisten.
Was den Linken in dieser Angelegenheit zu empfehlen ist? Ein entspannter Blick über die Grenzen: Sowohl historisch als auch global betrachtet spielen Gewerkschaften in der Herausbildung von Arbeitermilitanz und der Durchführung von Streiks und Aufständen günstigenfalls keine große Rolle, in der Regel sogar eine negative: Berüchtigt ist das beschwichtigende, ausbremsende Verhalten der französischen Gewerkschaft CGT im Pariser Mai - in Tateinheit mit der Kommunistischen Partei. Heute übrigens ist Frankreich ein gutes Beispiel für ein Land mit ausgeprägter Streikkultur ohne hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Viel wichtiger aber für die Arbeiteropposition im Weltsystem: Im Schatten der Fußball-WM gab es im Juni eine beeindruckend militante Streikwelle in China. "Starke Einheitsgewerkschaften" haben da keine Rolle gespielt.
Felix Klopotek schrieb in KONKRET 7/10 über den Kapitalismus als Ölpest