Angela Merkel, Heldin der Arbeit
von Ralf Schröder
Als hätte sich der Papst für die Priesterschaft der Frau ausgesprochen oder Jogi Löw einen schwulen Linksaußen auf den Platz geschickt: So bewerteten die Platzhirsche des Mindestlohns den Schwenk, den Angela Merkel in dieser Frage Ende Oktober angeblich vollzogen hat. »Besser spät als nie«, sagte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles: »Langsam sieht auch die Union ein: Der allgemeine Mindestlohn ist unaufhaltsam.« Die Kanzlerin sei dabei, aus falschen Gründen etwas Richtiges zu tun, befürchtete für die Grünen Renate Künast: »Machterhalt statt Gerechtigkeit« treibe Merkel an, grundsätzlich zeige sich aber, daß auch die CDU nicht an den Realitäten und den Bedürfnissen im Land vorbei handeln könne.
Auch die gesellschaftlichen Kräfte, die nicht unmittelbar mit der Etablierung des aktuellen Niedrigstlohnregimes befaßt waren, begrüßten den »scharfen Knick« – so hat der »Spiegel« mit der Headline »Genossin Merkel« die plötzliche Hinwendung der CDU-Spitze zum Proletariat kommentiert. »Ich habe das Gefühl, wir stehen kurz vor dem Durchbruch«, jubilierte Chefgenosse Sommer vom DGB. Ähnlich erfreut zeigte sich Chefgenosse Ernst von der Linken: Es müßten »jetzt Nägel mit Köpfen gemacht werden«, feuerte er die Kanzlerin an.
Daß die führenden Genossen und die rotgrünen Hartz-Architekten so positiv auf Merkel reagierten, hat damit zu tun, daß »Mindestlohn« für sie zu einem ideologischen Maskottchen geworden ist. Ähnlich wie Schwarzgelb mit »Steuersenkungen«, die dem Durchschnittsverdiener stattliche zwölf Euro pro Jahr bringen, jederzeit die Medienmeute in Alarmstimmung versetzen kann, gelingt das auch mit dem Mindestlohn: Was zählt, ist die Erzählung, und die dreht sich landestypisch vor allem um die »Würde der Arbeit« (Merkel et al.). 91 Prozent aller Wähler und 84 Prozent des CDU-Anhangs, so hat Emnid ermittelt, sind für die Einführung eines Mindestlohns.
Daß die Kanzlerin diesem Kultus nun beitreten konnte, indem sie eine »durch die Tarifpartner bestimmte Lohnuntergrenze« anbot, eine Lösung also, die sich von einem gesetzlichen Mindestlohn eklatant unterscheidet, hat vorrangig mit dem desaströsen Zustand gewerkschaftlicher Interessenvertretung zu tun. Dort, wo sie noch zustimmen dürfen, vor allem also in der florierenden Exportindustrie, haben sich die DGB-Leute der betrieblichen und nationalen Wettbewerbsfähigkeit verschrieben, zum Prekariat haben sie aus meist schlechten Gründen kaum Kontakt und Zugang – Tarifverträge existieren in diesem Segment des Arbeitsmarktes nur vereinzelt.
Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, hatte bereits 2010 durchblicken lassen, mit einem Mindestlohn von fünf Euro könne die Kapitalseite womöglich leben. Sollte Merkels Modell diese Marke auch nur knapp knacken: Sie würde zur Heldin der Arbeit. Und wiedergewählt.