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Warum die Gesellschaftskritik von Datenschützern ziemlich unkritisch ist.

Von Matthias Becker

Verborgene Ortsdaten auf dem I-Phone! Erfolgreicher Hackerangriff auf die Sony-Playstation! Die EU-Kommission will Deutschland zur Vorratsdatenspeicherung zwingen! Google Street View bringt deutsche Reihenhäuser ins Internet! Keine Woche vergeht, ohne daß ein neuer "Datenschutzskandal" durchs digitale Dorf getrieben wird. "Überwachung" und "Datenschutz" sind von einem Nischenthema zum Dauerbrenner geworden, und als Aufreger und Aufmacher taugt offenbar alles, solange es irgendwie mit Datenspeicherung zu tun hat. Die Presse verrührt dabei wirklich Bedenkliches und völlig Banales. Viele gute Gründe sprechen dagegen, der Polizei die Kommunikationsverbindungsdaten der Bevölkerung zu überlassen. Aber warum soll man sich die Fassaden der Münchner Lindenstraße nicht im Netz anschauen können?

"Die Diskussionen der letzten Jahre über staatliches und privates Datenhorten, über Skandale und Mißbrauch zeigen eine wachsende Sensibilität für Fragen der digitalen Privatheit", heißt es ganz zutreffend in Die Datenfresser. Die Autoren Frank Rieger und Constanze Kurz sind Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC). Ihr gerade erschienenes Buch ist eine Art Bestandsaufnahme: Wer macht eigentlich was mit welchen Daten, von der "gezielten Internetwerbung" bis zur polizeilichen Überwachung? Es kommt also zur rechten Zeit und ist durchaus empfehlenswert: frei vom pubertären Spott über "Internetausdrucker", der im CCC sonst Pflicht ist, dafür mit einer Menge interessanter Detailinformationen. Leider enthält das Buch auch (fast) alle gängigen Klischees des Datenschutzes, die im folgenden einmal näher betrachtet werden sollen.

Warum reden eigentlich alle vom Datenschutz?

Zunächst einmal, weil das Thema ein weitverbreitetes diffuses Gefühl von Bedrohung anspricht. Das liegt nicht nur daran, daß Internetfirmen, Behörden und Werbeagenturen die Methoden verschleiern, mit denen sie Informationen auswerten und verwenden. Es sind die wirklichen und vermeintlichen Fortschritte der Informationstechnik, die vielen Menschen Angst machen, und von denen der "Datenschutzdiskurs" erzählt.

Nun sind Autoren wie Kurz und Rieger der Maschinenstürmerei ganz unverdächtig, schon aus beruflichen Gründen: Sie sind Informatiker. Erstaunlich viele "Internetaktivisten", CCC-Mitglieder und Sympathisanten arbeiten als Freiberufler, Berater und Unternehmer in der IT-Branche. Das mag erklären, warum sie wie Ingenieure auf die Gesellschaft blicken und dabei statt auf soziale Fragen immer nur auf technische Probleme stoßen. Experten und Laien eint, daß sie der Computertechnik alles mögliche zutrauen, ob sie sie nun anbeten oder dämonisieren.

Die technische Innovation steht im Mittelpunkt, denn sie führt angeblich zu einer neuen Stufe von gesellschaftlicher Transparenz und Kontrolle. Weil die technische Form der Ausgangspunkt ist, entdeckt man angeblich brandneue Phänomene, die in Wirklichkeit ziemlich alt sind. So machen Kurz und Rieger etwa "das Aufkommen der Lochkartensysteme und Großrechner" dafür verantwortlich, daß aus den Beschäftigten heute "noch das letzte Optimierungspotential" herausgepreßt wird.

Die Datenfresser greifen an, und wir alle sind betroffen!

Doch es geht nicht nur um das Unbehagen an der Informationstechnik samt ihren sagenumwobenen "Algorithmen": Das Thema Datenschutz lebt davon, daß es alle betreffen soll, auch den unbescholtenen Bürger (eine Gestalt, die überraschend häufig Aktivisten bemühen, die gar keine unbescholtenen Bürger sein wollen).

Unermüdlich warnen Datenschützer vor den Gefahren des "Mißbrauchs", aber die Bedrohung bleibt merkwürdig unbestimmt. Denn man bestreitet gar nicht, daß Staat und Unternehmen personenbezogenene Daten brauchen. "Selbstverständlich" müsse die Polizei Informationen sammeln - nur allzu leicht soll es ihr nicht fallen. Nun gibt es kein Recht auf Gesetzesverstöße, und die Pointe der Überwachung durch Behörden, Polizei und am Arbeitsplatz ist, daß sie und ihre (für Betroffene häufig unangenehmen) Folgen in der Regel ganz legal sind. Weil die legalistische Kritik des Datenschutzes ins Leere geht, bauscht er Phänomene wie unerwünschte Werbung oder kriminellen Datengebrauch über alle Maßen auf und macht beispielsweise aus dem altbewährten Kreditkartenbetrug den neuen schlimmen "Identitätsdiebstahl".

Der beschränkte Horizont der Datenschützer führt andererseits dazu, daß sie die innovativen Möglichkeiten der Informationstechnik, die tatsächlich über die bürgerliche Gesellschaft hinausweisen, ignorieren oder verniedlichen (beispielsweise eine vernünftige gesamtgesellschaftliche Planung von Produktion und Ressourcenverbrauch und deren demokratische Kontrolle). Diesen Möglichkeiten stehen nämlich vor allem das Amts- und das Geschäftsgeheimnis im Weg, und die gelten dem Datenschutz als ebenso schützenswert wie das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Bürger. Die Gesellschaftskritik von Datenschützern ist, kurz gesagt, konventionell und defensiv.

Diskriminierung soll durch Geheimhaltung verhindert werden

Auch das erklärt noch nicht ganz, warum alle vom Datenschutz reden. Alle können mit dem Thema etwas anfangen, weil der Datenschutz wirkliche Probleme und gesellschaftliche Kämpfe aufgreift - im Betrieb, im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, in Familien und in der Sexualität. Aber der Datenschutz betrachtet diese Konflikte ausschließlich aus der Perspektive der Informationen. Er kennt die Menschen nur als gleiche, Verträge schließende Rechtssubjekte. Anhand der Leitfrage, wer was erfahren darf, verregelt und verrechtlicht er die Auseinandersetzungen. Das Gefälle zwischen den Mächtigen und den (angeblich) Wehrlosen versucht er auszugleichen, indem er dem Mächtigen Informationen vorenthalten will.

Das Vorhaben, Diskriminierung durch Geheimhaltung zu verhindern, ist nicht nur praktisch wenig erfolgreich, sondern führt auch zu ziemlich komischen moralischen Fragen. Denn wenn man nichts dagegen einzuwenden hat, daß der eine Proletarier die Arbeitsstelle bekommt und zwanzig andere nicht - warum soll die Angelegenheit dadurch besser werden, daß der Chef bestimmte Informationen bei der Entscheidung nicht berücksichtigt? Wenn bei der Vergabe von knappen Ressourcen wie Krediten oder gar Transplantationsorganen die Entscheider raten müssen, weil sie wenig über die potentiellen Empfänger wissen - welche Sorte Gerechtigkeit ist das eigentlich? Die individuelle "Datensouveränität" (Kurz und Rieger) wird den Konflikten, die sich hinter den Auseinandersetzungen um die Privatsphäre verbergen, weder praktisch noch moralisch gerecht.

Historisch entwickelt hat sich das, was in Deutschland "informationelle Selbstbestimmung" heißt, aus liberalen Abwehrrechten gegen den Staat. Der Alltagsverstand begreift den Datenschutz dagegen als Eigentumsfrage: "Meine Daten gehören mir!" Diese Auffassung ist falsch, liegt aber nahe: Gegen Überwachung und Bevormundung wird die persönliche Autonomie als "Selbst-Besitz" in Stellung gebracht, wie es der amerikanische Jurist Richard Epstein einmal formuliert hat. "Informationelle Selbstbestimmung" kann aber schon deshalb kein Besitzrecht sein, weil Daten im gesellschaftlichen Verkehr anfallen und die Interaktion zwischen Menschen widerspiegeln (sollen). Die Diagnose eines Arztes "gehört" diesem genausowenig wie seinem Patienten, dem Krankenhaus oder der Krankenkasse. Der individualisierende Blick des Datenschutzes verstellt den Blick auf die sozialen Zusammenhänge und Widersprüche.

Arglist, Naivität und Verführung

Dafür redet der Datenschützer von Arglist, Naivität und Verführung. Über individualisierte Werbebotschaften im Netz etwa heißt es in Die Datenfresser: "Wenn die Produktempfehlung nicht mehr abstrakt ist, sondern quasi aus den eigenen Gedanken errechnet wird, wenn die Empfehlungen hochpräzise und vollkommen treffsicher sind, dann verschwindet die Grenze zwischen Werbung und Manipulation zusehends."

Der Datenschutz fordert, sozusagen datenökologisch, Sparsamkeit, Verantwortungsbewußtsein und Nachhaltigkeit. Es ist kein Zufall, daß in der Literatur zum Thema nur eine Handvoll Beispiele kursieren, mit denen die Autoren die Gefahr zu großer Offenherzigkeit illustrieren. Kein Text kommt aus ohne die Fotos von Betrunkenen auf einer Party, die der Chef in spe im Internet zu sehen bekommt. Kurz und Rieger empfehlen übrigens, nach 24 Uhr generell keine Fotos mehr zu machen - der Gast, der "sich nicht daran hält, wird beim nächsten Mal einfach nicht mehr eingeladen".

"Der Rückzugsraum des Privaten steht für Freiheit und Autonomie", heißt es an anderer Stelle. Privatheit erlaubt, nicht dauernd mit den eigenen Widersprüchen konfrontiert zu werden, also beispielsweise dem Chef und der Freundin zwei verschiedene Gesichter zu zeigen, und sich einigermaßen unbeschadet durch die bürgerliche Gesellschaft zu bewegen. Hier und heute auf Privatheit zu verzichten, ist bestimmt nicht ratsam. Im Datenschutzdiskurs gerät sie jedoch zur anthropologischen Konstante - ohne daß die Konventionen und Schamgefühle selbst hinterfragt würden. Das Problem ist schließlich nicht, daß die Familie oder der Chef "es" herauskriegen können, sondern daß sie "es" nicht erfahren dürfen.

Unnötige Überwachung?

Schließlich reden alle vom Datenschutz, weil die Befugnisse und die Ausstattung von Polizei und Geheimdiensten in den vergangenen Jahren stark ausgebaut worden sind. Wer regelmäßig die Texte von Polizeifunktionären liest, weiß, daß sie sich tatsächlich im Wettlauf gegen die Mächte des Chaos wähnen (oder wenigstens so tun) und ihre Arbeit als "Krisenprävention" begreifen. "Der soziale Frieden im Angesicht gravierender Ungleichverteilung der Mittel oder von allgemeiner Ressourcenknappheit wird traditionell auf zwei Wegen bewahrt: durch Umverteilung von oben nach unten und durch strukturelle Repression", analysieren Kurz und Rieger. "Bisher war es die Gewichtung der Balance aus ›Erkaufen‹ und ›Erzwingen‹, die ausmachte, ob eine Gesellschaft eher als sozial gerecht und fair oder als repressiv und ungerecht empfunden wurde. Mit der ... Möglichkeit umfassender Ausforschung potentiell störender Individuen und Gruppen ... entsteht eine neue Qualität der Befriedungsmethoden."

Die "neue Qualität" mag man bezweifeln, in der Sache haben die Autoren recht. Deshalb ist der Datenschutz ein "Anliegen der demokratisch orientierten technischen Intelligenz", die ahnt, daß die ausufernde Überwachung in erster Linie der Verhinderung und Bekämpfung von Aufständen dienen wird. Den Überwachungsgegnern ist, mehr oder weniger deutlich, bewußt, daß das nicht in ihrem Interesse liegt.

Aber der Datenschutz hat den stetigen Ausbau der staatlichen Überwachungsmöglichkeiten nicht verhindert, sondern nur moderiert. Als Angelegenheit von "Verbraucherschützern" und "Menschenrechtsexperten" treibt er den politischen Konflikten das Politische aus. Sein Ziel ist der gesellschaftliche Konsens. "Wachsende staatliche Intervention führt nicht zu mehr Anerkennung der staatlichen Ordnung, sondern zu wachsender Entfremdung", argumentiert beispielhaft der FDP-Politiker und Bürgerrechtler Burkhard Hirsch gegen zu starkes Eingreifen in die Privatsphäre. Liberale glauben, daß zu viel Überwachung überflüssig sei. Kapitalismuskritiker wissen es besser.

Constanze Kurz/Frank Rieger: Die Datenfresser. Wie Internetfirmen und Staat sich unsere persönlichen Daten einverleiben und wie wir die Kontrolle darüber zurückerlangen. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 272 Seiten, 16,95 Euro

Matthias Becker hat in seinem Buch Datenschatten. Auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft? (Heise) den Datenschutz etwas solidarischer kritisiert

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