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Steh auf, du Sau!

Trotz aller schönen Worte bleibt Depression ein Tabuthema im Profifußball.

Von Marit Hoffmann

Stell dir vor, du bist depressiv und mußt als Studiogast im "Aktuellen Sportstudio" auftreten. In einem reißerischen Einspieler wird deine Leidensgeschichte inklusive Suizidversuch in wenigen Sekunden abgespult - Applaus vom Studiopublikum. Nach dem fröhlichen Torwandschießen serviert dich Katrin Müller-Hohenstein mit einem herzhaften "Das Leben ist schön!" ab.

So erging es Andreas Biermann, dem ehemaligen Profifußballer des FC St. Pauli, nachdem er sich als depressiv geoutet hatte. Die Moderatorin ist bekanntlich gut darin, versehentlich das auszuplaudern, was der Durchschnittsdeutsche an seinen "inneren Reichsparteitagen" so denkt. Und über Depressive denkt der Durchschnittsdeutsche, falls er nicht selbst zu den geschätzten vier Millionen Erkrankten (Tendenz: steigend) gehört: "Können sich diese Jammerlappen nicht zusammenreißen?"

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg macht für die Zunahme psychischer Leiden einen gesellschaftlichen Wandel verantwortlich: Die Depression offenbare, schreibt er in dem Band Kreation und Depression (Kadmos), wie schwierig es für den einzelnen sei, "sich in einer Gesellschaft, die alles auf Eigeninitiative und Selbstverwirklichung setzt, selbst eine Struktur zu geben". Axel Honneths Diagnose im selben Band geht noch weiter: "Die Ansprüche auf individuelle Selbstverwirklichung" seien in den westlichen Gesellschaften "so stark zu einem institutionalisierten Erwartungsmuster geworden, daß sie ihre innere Zweckbestimmung verloren haben und zur Legitimationsgrundlage des Systems" geworden seien, zur "mißbrauchten Produktivkraft der kapitalistischen Modernisierung". Dies führe zu "individuellen Symptomen innerer Leere, Sich-überflüssig-Fühlens und Bestimmungslosigkeit".

Die Pharmamindustrie arbeitet mit "Hirndopingmitteln" erfolgreich daran, daß künftig als krank gilt, wer sich nicht rund um die Uhr einsatzfähig zeigt. Im Profifußball, dessen Protagonisten permanent unter Beobachtung stehen, steigert sich der Leistungsdruck ins Unermeßliche, den sich heutzutage ein jeder als "Unternehmer seines eigenen Lebens" (Ehrenberg) auferlegt. Wie die Öffentlichkeit auf jemanden reagiert, der in diesem System nicht "funktioniert", sieht man schon daran, daß Google den Zusatz "schwul" vorschlägt, sobald man den Namen Andreas Biermann eingibt (schon klar, das ist aus anderen ebenso fadenscheinigen Gründen auch bei so manchem Nationalspieler und sonstigen Promis, die auf ihre Frisur achten, der Fall, aber bei dem weniger bekannten Zweitligakicker liegt der Zusammenhang mit der offenbarten Schwäche auf der Hand). Als der ebenfalls an Depressionen leidende junge Fußballstar Sebastian Deisler zurück an den Arbeitsplatz kam, nannten ihn Teamkollegen die Deislerin. Er hat sich inzwischen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

Andreas Biermann wollte der erste an Depression Erkrankte sein, der erfolgreich in den Profisport zurückkehrt - man hat ihn nicht gelassen, was vielleicht sein Glück war. Bleibt die Frage, warum er sich dennoch der Tortur im "Sportstudio" und in den Seelenstripshows der TV-Therapeuten Reinhold Beckmann und Markus Lanz aussetzt. Weil er sich seiner Krankheit erst durch die Pressekonferenz von Robert Enkes Witwe nach dem Suizid des Nationaltorhüters bewußt wurde, will Biermann nun ebenfalls offensiv an die Öffentlichkeit gehen, um andere Betroffene zu ermutigen, sich behandeln zu lassen. Er will aufklären über die Krankheit, die die Leistungsgesellschaft lieber Burn-out-Syndrom nennt.

Dazu kann seine Lebens- und Leidensgeschichte sicher beitragen, die Rainer Schäfer nun in schlichten und ergreifenden Worten aufgeschrieben hat (sieht man mal von vielen Wiederholungen ab, die sich eher an Alzheimerpatienten zu richten scheinen). Das Buch mit dem plakativen Titel Rote Karte Depression (Gütersloher Verlagshaus) handelt von massiven Hänseleien gegen den rothaarigen Jungen, von der Sprachlosigkeit in der Familie, die das Kind in die Isolation treibt, von der Anerkennung, die es nur auf dem Fußballplatz erfährt, von den späteren Kämpfen gegen dauernde Verletzungen, vom gespielten Torjubel, bei dem der Depressive nichts empfindet, von stumpfen Männlichkeitsritualen, die ihm fremd bleiben, von Tränen wegen eines Todesfalls, die mit Rausschmiß aus dem Kader geahndet werden, von abgestorbenen Gefühlen und davon, was in jemandem vorgeht, der Vorkehrungen trifft, sich das Leben zu nehmen. Schließlich berichtet Biermann von den Erkenntnissen durch die Therapie und von den vergeblichen Versuchen, nach seinem Outing wieder im Sport Fuß zu fassen. Obwohl ihm Ärzte volle Leistungsfähigkeit attestierten, sei dem Zweitligaspieler kein akzeptables Angebot, von dem er seine Familie hätte ernähren können, mehr unterbreitet worden.

Biermann hatte den Fehler gemacht, das wortreiche "Bekenntnis zur Würde des Menschen, des Nächsten, des anderen" für bare Münze zu nehmen, das DFB-Präsident Theo Zwanziger 2009 auf der Gedenkfeier für Robert Enke abgesondert hatte (nicht ohne geistlichen Beistand zu bemühen): "Vor dreieinhalb Jahren begann die Weltmeisterschaft mit einem Gottesdienst in München. Damals, die Sonne begann genauso wie hier den Nebel und den Regen zu verdrängen, sprach Bischof Wolfgang Huber: ›Fußball ist ein starkes Stück Leben.‹ Ja, Fußball kann ein starkes Stück Leben sein, wenn wir nicht nur wie Besessene hinter Höchstleistungen herjagen ... Werte wie Fairplay und Respekt sind gefragt." Es gelte, "das Kartell der Tabuisierer und Verschweiger ... zu brechen".

Doch eitel Sonnenschein, der den Nebel verdrängt, gibt's nun mal nur in Sonntagspredigten. Nicht bloß seine Mannschaftskollegen haben das Thema gemieden wie die Pest, auch der DFB habe sich nie bei ihm gemeldet, wundert sich Biermann. Einem depressiven Profisportler würde er künftig raten, sich nicht zu outen, denn geändert habe sich seit Enkes Tod nichts.

Als der in Wettskandale verwickelte St.-Pauli-Spieler René Schnitzler seine Spielsucht offenbarte, äußerte Biermann, der selbst viel Geld verzockt hat, Kritik am Verein. Die Funktionäre hätten Kicker, die bekanntlich generell für Spielsucht anfällig sind, zu offiziellen Pokerrunden des Sponsors B-Win-Poker geschickt. Das verstärkte nur die Anfeindungen von Fans und Medien: Biermann störe im Abstiegskampf. "Ein Fußballverein ist ja auch ... kein Kindergarten mit Ganztagsbetreuung", kommentierte "Bild". "Nicht wenige glauben bei ›Biere‹ an einen späten Racheakt." Soviel zum Thema "Fairplay und Respekt" (Zwanziger).

Biermann gewährt aufschlußreiche Einblicke in den innersten Bereich des Leistungssports. An dem "unmenschlichen Mikroklima", in dem "Krankheiten und Süchte keimen, die unter Verschluß gehalten werden", wird sich auch nicht viel ändern, wenn das Land nun kickenden Frauen zujubelt - zeugt das doch weniger von einer neuen Aufgeschlossenheit als von der nationalistischen Hoffnung auf ein neues "Sommermärchen".

All das erklärt, warum es so schwer zu ertragen ist, den Antitabubotschafter Biermann in den Fernsehstudios sitzen zu sehen: Man möchte ihn schützen vor einer Öffentlichkeit, die ihn genauso enttäuschen wird wie seine "elf Freunde" und der DFB. Irritierenderweise enthält Biermanns Buch eine recht intime Stellungnahme seiner Ehefrau und ein Interview mit der Psychologin, die ihn in Hamburg-Ochsenzoll behandelt hat. Bei einem etwas prominenteren Fußballer hätte die Presse so etwas gnadenlos ausgeschlachtet. Will der Perfektionist, der auf seiner Homepage für Hilfesuchende seine Handynummer angegeben hat, nun Leistungssportler auf anderem Gebiet werden, indem er die Last der Welt auf seine Schultern lädt?

Kurz nach Erscheinen des Buchs meldete Biermann via Facebook, daß er sich wieder in stationäre Therapie begeben mußte. Mittlerweile absolviert er wieder Lesungen, und zu befürchten ist, daß er auch künftig Talkshoweinladungen nicht ausschlagen wird. Zu wünschen wäre ihm, daß das Thema inzwischen für die Katrin Müller-Hohensteins dieser Welt durch ist - bis zum nächsten Promisuizid.

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