Wie Volker Weidermann das Kunststück vollbringt, eine erfolgreiche Literaturkritikerkarriere mit hauptsächlich vier Begriffen zu bestreiten. Von David Schuh
Was will Weidermann? Private Vorlieben des weder sympathischen noch unsympathischen Mannes sind hier nicht Thema, und es steht mir nicht an, dergestalt zu spekulieren. Beruflich will Weidermann, der es von der »Taz« bereits zum Feuilletonchef der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« gebracht hat, das aberwitzig scheinende Kunststück vollbringen, eine erfolgreiche Literaturkritikerkarriere mit hauptsächlich vier Begriffen zu bestreiten. Der enorm ehrgeizige Exil-Darmstädter verfolgt sein Projekt ebenso konsequent und pedantisch, wie der stilistisch weitgehend wahllose Wahl-Berliner dem nicht seinem Wortquartett Zuzuordnenden durchaus desinteressiert gegenübersteht bzw. doch eher -sitzt, denn Redakteure sitzen auf Stühlen, um Unsinn zu schreiben, so ist es Sitte und Brauch seit Jahr und Tag.
Volker Weidermanns rhetorisches Repertoire erschöpft sich in den Begriffen Welt, Wahrheit, Wirklichkeit, Leben. Mit diesem Vokabular füllt Weidermann seine Kritiken, und ich als unbedarfter Hilfsarbeiter ohne Schulabschluß muß mich schon wundern, daß diese Methode in der Fachwelt nicht wenigstens für »Irritation und Erstaunen« sorgt, sondern akzeptiert wird, gar reüssiert. Falls Sie meinen, ich wollte mich mit haltlosem Geschwätz profilieren, dann sind Sie, mit Verlaub, ein dahergelaufener Wirrkopf, denn ich kann meine These belegen wie Frank Schirrmacher seine Brote: gründlich.
Beginnen wir mit dem Weltensammler Weidermann. Er ist da ganz pragmatisch, versucht einfach so oft wie möglich, den Begriff Welt in seinen Kritiken zu verwenden, gern auch innerhalb lustiger Wortschöpfungen wie Weltbewahrer, Weltschmerzbuch, Weltbeobachtungsvorbild, Weltbeglücker, Welterfinder, Weltvernichtungspotential, Weltwunschprogramm, Weltweisheiten, Schnee- und Weltreflexionen, Weltumrundungsdichtung, Welterduldungsgeschichte, Weltverwünschungen, gar einer Frankfurt-Deutschland- Welt-Archäologie, andererseits auch einer Welterschließung des Duftes.*
Doch Weidermann kann mehr: Christian Krachts Reportagen waren für ihn immer wieder welterleuchtend, von Konsalik gibt es fast immer eine gute Story aus einer Welt voller Glanz – und einer Welt am Abgrund, und Marie-Luise Kaschnitz legt eine Folie über die Welt, und eine neue Welt entsteht. Hans-Magnus Enzensberger wollte die Welt verändern, Thomas Brasch hingegen genügte die Welt nicht, und Sarah Kirsch, na ja, weltabgewandt war sie nicht. Dann plötzlich: Sie wendet sich ab von der Welt. War Weidermann zu Besuch gekommen?
Was ihn aufrichtig freut: die Verbindung zwischen Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Was für ein weltfreundliches, welterfreuendes Paar, jubiliert er, und mit ihm die ganze, also seine Welt. Leicht zwanghaft bescheinigt Weidermann Maxim Biller eine Liebe zur Welt, die allerdings längst im Besitz Hubert Fichtes sein müßte (die Welt gehört ihm), geht mit Thomas Bernhard dessen Weg von der Weltverherrlichung zur Weltbeschimpfung und mißt mit Peter Handke das Gewicht der Welt, kurz vor der Zeit, als eine Welt einstürzte.
Glück für Weidermann, Pech für die deutsche Sprache, denn der studierte Germanist macht immer weider bzw. weiter, beobachtet Felicitas Hoppe beim Bügeln gegen die Unordnung der Welt, besucht Ulrich Holbein in dessen wahrer Wunderwelt, liest zwischendurch einen der welthaltigsten deutschen Romane (Max Frischs Stiller), findet Jelineks Kunst dieser Welt abgerungen, denn, man staune: Elfriede Jelinek ist nicht gern auf dieser Welt. Ich auch nicht, jedenfalls nicht, wenn Volker Weidermann sie im Munde führt. Der sieht nun schon wieder Möglichkeiten einer neuen Welt, gar eine Zeit der ... Weltveränderung, und zwar in den Büchern Marcel Beyers, während jene von Thomas Meinecke lediglich Möglichkeiten einer neuen Bezeichnung der Welt aufzeigen, aber immerhin. Benjamin von Stuckrad- Barre nun betrachtet die Welt, verachtet die Welt, auch Robert Menasse ist ein Weltverächter, und in Hermann Hesse wohnt mitunter gar Welt- und Gesellschaftsverachtung. Thomas Bernhard ist, na klar, ein Weltwutautor, Rolf Dieter Brinkmann schlicht gegen die Welt, Ernst Jünger wiederum dafür, denn diesen durchdringt ein Weltoptimismus, wenn er etwa auf Käfersuche ist, und zwar, natürlich, in der Welt. Das ist Welterkenntnis, Welteinordnung, Weltbändigung, wie es das nur in wenigen Büchern gibt, schwärmt Weidermann, obwohl doch erst Hubert Fichte die Welt in die deutsche Literatur hineingeholt hat. Schiller, Goethe, Kleist, Fontane, Kraus, Musil, T., H., K. Mann: Alles gut und schön, aber sie versäumten es leider, die Welt hineinzuholen, bedichteten allesamt das Nirvana, wie töricht!
Wer noch immer nicht weiß, was genau Redundanz bedeutet, der nehme dies: Peter Rühmkorf schreibt die Welt mit … und schreibt und schreibt. Die Welt. Joachim Lottmann ist ein Weltmitschreiber, und was macht eigentlich H. Fichte schon wieder? Fichte schreibt die Welt auf. Respect, das muß man erstmal bringen. Ebenso beeindruckend Michael Lentz’ Performance, der fährt nämlich laut Weidermann dichtend bis ans Ende der Liebe, ans Ende des Landes, ans Ende der Welt. Man müßte Herrn Lentz mal fragen, wie es dort so ausschaut, am Ende der Welt. Kann man da rausfallen, aus der Welt? Und wenn ja, könnte man dann nicht Herrn Weidermann …? Pfui, sind das Phantasien, ich möchte mich entschuldigen für diese beispiellose Entgleisung und frage mit V. W.: Was ist das für eine Welt, in der solcherlei Gedanken publiziert werden? Nun, es ist eine, in der auch solcherlei »Gedanken« publiziert werden: Es sind Bücher aus der Welt hinaus. Einer Welt, die keine Sicherheiten bietet / ein seltsames Lesewunder, schön zu betrachten, schön zu lesen, zu staunen, daß es diese Welt noch gibt / erfindet Geschichten von Menschen aus einer anderen Welt / versucht er die Welt auf einen Begriff zu bringen / hat … eine Welt geschaffen, eine Welt dokumentiert / seine Bücher haben unsere Welt verändert / mit Hegel um die ganze Welt / Es gab keine Hoffnung mehr … Nicht für die Welt / So allein, wie man nur sein kann auf der Welt / Selbstund Welterkundung / der Grund ist die Welt. Der Grund ist alles / so leicht und voller Weltbetrachtungen / die Jury war so beeindruckt wie später die ganze Welt / Drama des letzten Lachens vor dem Ende der Welt / die Welt bedenkend. Die Welt betrauernd / gegen die Stille der Welt / um ein Visum in die Welt bitten / In kleinen Alltagsbeobachtungen und großen Weltweisheiten / lebte in anderen Welten. In Bücherwelten / Kurt Kusenberg lebt in seiner eigenen Welt. In der Welt seiner Geschichten.
Volker Weidermann lebt auch in seiner eigenen Welt. In der Welt seiner WeltWelt- WeltWeltWelt. Mein Held in dieser Welt ist der kluge Schweizer Schriftsteller und Trinker Ludwig Hohl, denn der hat, wie Weidermann indigniert feststellen muß, keine Weltbeobachtungen gesammelt. Das tönt guet, Herr Hohl, ich trinke einen Appenzeller Alpenbitter auf Sie!
Weidermanns Welt-Wortwahn ist in seiner Monstrosität hier kaum adäquat darzustellen, das Recherchematerial trotz bloß sporadischer Notizen (z. B. Weltweisheitskriminalromankönnen) nicht zu bewältigen. Nun beinhalten W.s Kritiken freilich mehr Wörter, namentlich weitere drei. Neben der Welt ist Weidermann ganz vernarrt in das Leben, kann nie genug davon bekommen und hat gewiß kein Lebensproblem wie Franz Xaver Kroetz, untersucht von Dr. Weidermann. Der liest begeistert seinen Lebens-Krausser, denn da wird gelebt, als sei das nichts. Im Werk Eckhard Henscheids geht es neben dem Reden und dem Trinken selbstverständlich um das Leben, aber auch Biller ist immerhin am Leben gelegen, und Katja Lange- Müller schreibt aus dem Leben, wahr, erlebt. Bei Botho Strauß steht mitunter ein lebenstrauriger Satz, während Jakob Arjouni gleich den lebensweisesten Berlin-Roman geschrieben hat. Wer so gelobt wird, braucht keine Verrisse mehr. Herbert Achternbuschs Werke sind direkt aus dem Leben bzw. herausgerissen aus dem Leben, diejenigen Erwin Strittmatters dagegen erlebt. Und authentisch mitgeschrieben. Interessant wird’s bei Frank Schulz und dessen Beschreibung einer Lebensflucht … aus dem Leben … in ein neues Leben hinein; es geht hier wohl um Reinkarnation und damit meine größte Angst: suizidal verschwinden, in Frieden ruhen, plötzlich in ein neues Leben hineingeraten, schlimmstenfalls in das von Weidermann, um beispiellos blöde ins Off zu fragen: Ist das nicht … lebenswahr? Nein, das ist bestenfalls wahr, wahrscheinlich sogar dreist gelogen. Schreiber wie Jörg Fauser oder wiederum Brinkmann sind für einen Lebensredakteur wie Weidermann natürlich vor allem Rock ’n’ Roll und so, und also stammelt er auch schon los: Er will schreiben, leben, Neues sehen, aufschreiben bzw. das Leben ist jetzt; Diesem Mann war das Leben nicht genug; Und (er hat) dabei so radikal und unbedingt ein anderes Leben eingefordert. Dann noch die Top-Information: Brinkmann wollte leben. Ah, der also auch. Weidermann zählt Brinkmann offenbar zu den etwa 99,97 Prozent der Menschheit (exklusive aller ihren Suizid planenden oder bereits durchführenden Menschen), die leben wollen. Ich will auch leben. Sollte mein Stammlokal wegen baulicher Mängel einmal einstürzen und mich begraben samt der lieben Freunde und der kalten Getränke, würde einer der überlebenden Alkoholiker in meine Grabrede womöglich auch den Satz »Er wollte leben.« einbauen. Insofern ist Weidermanns Satz nachvollziehbar. Zumal Brinkmann dann auch recht bald, nachdem er leben wollte, überfahren worden ist. Ulrich Plenzdorfs Romanfiguren sind da robuster, sie lassen sich von keiner sozialistischen Wirklichkeit aus der Liebe bringen, lieben sich, reden, träumen, und auch die tapferen Trotz-DDR-Liebenden tun, was Weidermann zu erwähnen gezwungen ist, sie leben. Und reden und träumen ja auch, na gut, damit läßt es sich wohl aushalten, wozu da noch Tod, werden Sie gedacht haben. In der DDR gab’s zudem kein »FAS«-Feuilleton!
Heiner Müller besitzt übrigens ein Jahrhundertleben, Wolf Wondratschek nur das Drama seines Lebens, und Ingeborg Bachmann bleibt ein Leiden am Leben; über allen thront Weidermann und besitzt Tausende Leben, aber eben nur auf Papier, und er muß sie alle loswerden, er ist ein Getriebener, er kann nicht anders, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis erste Anzeichen von Lebensmüdigkeit auftreten werden. Es wäre eine Befreiung, für Weidermann und erst recht für die deutsche Literaturkritik. Bis dahin zieht Irmgard Keuns Romanheldin nach Berlin, um das große Leben zu leben, und nicht etwa, um eine etwaige gefühlte Lebensleere mit kurzem Liebesund Drogenglück zu füllen wie Uwe Timm.
Bei aller Trostlosigkeit, die Recherchen müssen raus, und also erzählt Undine Gruenter die Geschichte … einer lebenswissenden, lebenserstaunten Frau, Arno Schmidt schreibt, wie im Traum, den ein oder anderen lebenseuphorischen Satz, und Lebensfreundlichkeit und v. a. Lebensfrauen, die sind ja sowieso a Freud’. Weniger erfreulich ist vermutlich eine Lebenserschütterung, aber wer sie beim Lesen von Dürrenmatt erleidet wie wiederum Weidermann, kommt wohl auch ohne Halskrause am nächsten Morgen zur Redaktionskonferenz.
Die Lebensexperimente von Lebenskolumnist und Weltwiederverzauberer (!) Ulrich Holbein verdienten sicher einen gesonderten Aufsatz, und Luise Rinsers präzise geschriebene Erzählung vom Alltagsleben war bestimmt nicht alltäglich, allein: Irgendwann ist auch mal Schluß mit dem ewigen Leben. Wer sich nun fragt, was ist das überhaupt, das Leben, der lese Alfred Döblin, denn: Berlin Alexanderplatz, das ist: … das Leben.
Wer wie Weidermann allgemeine literarische Plätze mag, wird auch den der Wirklichkeit nicht meiden, im Gegenteil, Weidermann will stets mehr Wirklichkeit wagen. In einem »FAS«-Artikel vom 24. Juni, folgerichtig überschrieben mit Die sensationelle Wirklichkeit, räumt er zunächst ein, bisher habe man (also er) gedacht, Dave Eggers sei vielleicht ein besserer Finder von Wirklichkeiten als Erfinder von Geschichten. Aber das stimme so jetzt nicht mehr. Vielmehr sei Eggers einfach ein besserer Finder als Erfinder von Wirklichkeiten, sei immer am stärksten gewesen, wenn er möglichst direkt die Wirklichkeit erzählte … So seien aus einigen seiner Bücher Projekte in der echten Wirklichkeit entstanden. Als Weidermann dann auch noch eine besonders unwahrscheinliche Variante saudischer Wirklichkeit ausgemacht haben will, erscheint mir eine Variante persönlicher Wirklichkeit plötzlich besonders wahrscheinlich, ja angeraten: Zeitung zuklappen, aber wirklich jetzt.
Die nächste Weidermann-Lektüre informiert mich über Gideon Lewis-Kraus, und der ist der nächste aus einer ganzen Reihe junger amerikanischer Autoren, die aus der Wirklichkeit … einen herausragenden Stil entwickeln. Ein junger Amerikaner ist Jörg Fauser nun nicht gerade, aber auch er: Wirklichkeitsschriftsteller. Ebenso wie Uwe Johnson, den was vorangetrieben hat? Eine Wirklichkeitsdarstellung natürlich, sogar eine gleichfalls präzise wie poetische. Günter Wallraff indes hatte gar keine Wahl: Die selbst erlebte Wirklichkeit war sein einziges Material. Ein äußerst ambitioniertes Projekt treibt Ex-»Fräuleinwunder « Judith Hermann um: All die Möglichkeiten des Lebens … wollen, müssen Wirklichkeit werden. Eine Horrorvorstellung für den Dichter des Ostens Durs Grünbein, denn die Wirklichkeit …, die hält er sich vom Leib. Derlei Berührungsängste darf Ingo Schulze nicht kennen, berichtet er doch in kleinen Geschichten, die geschehen … aus der dürren neuen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit hat’s mitunter aber wirklich nicht leicht, wird übel beschimpft von Franz Xaver Kroetz, zudem sind alle Werke Herbert Achternbuschs, in reinster Weidermann-Diktion, herausgeschrien … gegen diese verzwungene Wirklichkeit, und auch in Uwe Timms Roman Kerbels Flucht ist die Wirklichkeit nur unwillkommene Nachfolgerin der revolutionären Hoffnungen des Protagonisten.
Weidermann scheint im Besitz eines Wirklichkeitsortungsgerätes zu sein, kann damit ermessen, ob ein Text sich innerhalb der Wirklichkeit bewegt, diese an der Peripherie streift oder aber sie knapp verfehlt. So attestiert er Joachim Lottmann, knapp an der Wirklichkeit vorbei zu schreiben, und ausschließlich Geschichten aus einer Welt knapp neben der sogenannten Wirklichkeit schrieb Kurt Kusenberg, so Ortungsdienst Weidermann. Wer sich nun fragt, was ist das überhaupt, die Wirklichkeit, der lese Alfred Döblin, denn: Berlin Alexanderplatz, das ist: … die Wirklichkeit.
Was genau die Wahrheit ist, darüber läßt sich bekanntlich streiten. Ludwig Wittgensteins Logisch-empiristische Bildtheorie definiert Wahrheit etwa als »Übereinstimmung der logischen Struktur des Satzes mit der des von ihm abgebildeten Sachverhalts«. Friedrich Schlegel war Wittgensteins Auffassung naturgemäß suspekt, obschon ein gutes Jahrhundert früher lebend. Für den poetischen Romantiker gibt es »keine wahre Aussage, denn die Position des Menschen ist die Unsicherheit des Schwebens. Wahrheit wird nicht gefunden, sondern produziert. Sie ist relativ.« Volker Weidermanns Wahrheitsdefinition verblüfft nun durch radikale Vereinfachung: So ist ein Satz oder auch ein gesamter Text immer dann wahr, wenn selbiger von ihm, Weidermann, positiv rezensiert wird. Diese kühne Subjunktion verkümmert aber nicht zu grauer Theorie, sondern ist gelebte Praxis – und zwar immer wieder sonntags, wenn die wirklich wahre Erinnerung kommt und die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«.
Am 27. April 2008 knüpft, nach langer Irrfahrt, Karen Duve endlich wieder an die … Wahrhaftigkeit … ihres ersten Buches an, beschreibt wieder das wahre Leben statt das unwahre, wie aufrichtig. Botho Strauß wird hoch gelobt als einer der hellsichtigsten Gegenwartsseher und als Wahrheitsfinder, aber schon der, der immer strebend sich bemüht, erfährt das Wohlwollen Weidermanns: Jurek Becker als Wahrheitssucher,Daniel Kehlmanns Figur Humboldt als besessener Wahrheitssucher, Uwe Johnson mit seinem Roman … über eine Suche nach der Wahrheit, oder auch Christoph Hein und sein sogar aufopferungsvoller Kampf um die Wahrheit – sie sind allesamt keine Lügenbarone und stehen also unfreiwillig und diesmal auswegsuchend in der gedankenlosen Gunst Weidermanns. Ebenso wie Robert Gernhardt, denn was ist alles drin in einem seiner Gedichte außer Witz und Welt? Wahrheit natürlich, wenngleich garantiert eine andere, als Weidermann zu erkennen glaubt. Was Gert Ledig und M. Biller verbindet, ist ihr Wille zur Wahrheit, und während Ledig entschlossen die Wahrheit schreiben will, ist Biller zusätzlich an selbiger, wie selbstverständlich auch an der Welt und am Leben, gelegen. In der ihm eigenen Diktion der mediokren Buchrückenkompatibilität bzw. Heidenreichhaftigkeit stellt Weidermann sich und leider auch allen anderen Max Frisch so vor: Das ist Max Frisch. Die Fragen des Universums auf die persönliche Betroffenheit heruntergeschrieben. Fühlbar gemacht. Erlebbar. Wahr. Tja. Man verzeihe den Kalauer, aber frisch klingt das nicht, eher abgeschmackt. Doch die Buchrücken müssen gefüllt sein, und da Weidermann- und Werbesprache kongruent sind, findet C. Kracht, wo auch immer, eine Wahrheit und eine Welt, wie wir sie noch nicht kannten, und J. Hermanns Geschichten sind banal. Und traurig. Und wahr. Und wahnsinnig schön. Eher unschön mein Buchhalterjob gerade, doch wahrhaft heroisch, alle Scheußlichkeiten zusammenzutragen, nicht?
Aber bald ist ja auch Feierabend, Ferien von der Phrase, ich freu’ mich schon wahnsinnig drauf. Vorher unbedingt noch die Wahrheiten bzw. sogar Fried-Wahrheiten von Erich Fried, die er auf höchst innovative, ja revolutionäre Weise produziert: Und zwar, indem incredibly Fried wie ein Steinmetz Wahrheiten aus dem Stein heraushaut, der bislang den Weg ins Freie verstellte. Alle Wetter! War man bislang dem traditionellen Irrglauben verhaftet, ein Steinmetz sei, wie es etwa der anscheinend obsolete Duden nahelegt, ein »Handwerker, der Steine behaut und bearbeitet«, wird man von Weidermann aufgeklärt: Ein Steinmetz ist vielmehr ein Handwerker, der Wahrheiten aus dem Stein heraushaut. Klingt für den Laien erstmal unwahrscheinlich, ist aber bestimmt, ebenso wie Marlen Haushofers Die Wand, in aller Unwahrscheinlichkeit wahr. Mag auch, stellvertretend für viele, Herr Settembrini in Thomas Manns Zauberberg konstatieren: »Das Paradoxon ist … das Schillern des faulig gewordenen Geistes, die größte Liederlichkeit von allen!«
Lieder- wie widerlicher nur das noch effektivere Blendwerk des semantisch Aufgeplusterten, und niemand auf der Welt beherrscht das eindrucksvoller als Weidermann. Wirklich wahr!
* Kursive Passagen sind Zitate von Volker Weidermann.