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»Haltet uns die Europäer vom Leib«

Dan Schueftan ist Direktor des Zentrums für Nationale Sicherheitsfragen an der Universität Haifa und seit drei Jahrzehnten einflußreicher Berater der israelischen Regierung. KONKRET sprach mit ihm über einen einseitigen israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten, die Gefahren des iranischen Atomprogramms und die Chancen auf Demokratie im Nahen Osten.

KONKRET: Sie plädieren für ein israelisches »Disengagement«, das heißt den einseitigen Rückzug aus den besetzten Gebieten. Warum?

Schueftan: Öffentlich bin ich schon ab Mitte der neunziger Jahre dafür eingetreten, besonders mit einem Buch, das erheblichen Einfluß auf die israelische Führung und die Entscheidung zum Rückzug aus Gaza hatte. Der Grund für mich war der Mangel an realistischen Alternativen. Ein Friedensabkommen ist keine Option, da die Palästinenser nicht bereit sind, einen jüdischen Staat zu akzeptieren. Es gibt keine palästinensische Führung, die zugleich moderat und repräsentativ sein könnte. Aber für immer in den besetzten Gebieten zu bleiben, ist auch inakzeptabel. Also kommt man zu etwas, das wenig erfreulich, aber weniger gefährlich und schädlich als die andere Alternative ist. Vor knapp drei Jahren habe ich vorgeschlagen, daß Netanjahu Obama folgendes sagt: Sie möchten unbedingt Verhandlungen, also gut, wir werden in gutem Glauben verhandeln. Aber haben Sie etwas dagegen, wenn wir während der Verhandlungen einseitig die Besatzung abbauen? Die C-Zonen in B-Zonen verwandeln, die B-Zonen in A-Zonen, mehr und mehr zusammenhängendes Territorium schaffen. Und solange es die Palästinenser in der Westbank so ernst wie jetzt mit der Bekämpfung des Terrors meinen, werden wir weitermachen. Was wir von Ihnen als US-Präsident wollen, ist, uns die Uno und die Europäer vom Leib zu halten und uns nicht vorzuschreiben, welche Gebiete wir wann räumen sollen. Damals sprach ich von koordiniertem oder parallelem Unilateralismus. Salam Fayyad (der palästinensische Regierungschef, J.W.) baut unilateral palästinensische Institutionen auf, und wir geben ihm immer mehr souveräne Gebiete. Dafür muß es kein Übereinkommen geben.

Viele Israelis beharren auf der Notwendigkeit verteidigbarer Grenzen, etwa zu Jordanien.

Ich spreche vom Abbau der israelischen Siedlungen im besiedelten Teil der Westbank, nicht vom Rückzug der Armee. Militärisch könnten wir immer noch die Kontrolle übernehmen, wenn es notwendig ist, denn durch einen Rückzug der Armee wären derzeit die israelischen Bevölkerungszentren gefährdet. Aber weil es einseitig geschähe, könnte man ja mit dem Jordantal bis zum Schluß warten. Wir müssen sehen, ob Jordanien stabil bleibt oder ob bald die Iraker im Dienste der Iraner zusammen mit den Syrern an unserer östlichen Front stehen. Dennoch: Man kann einen Großteil der Siedlungen räumen – ein sicherlich langer und schwieriger Prozeß, der zu großen Spannungen in Israel führen würde. Die Armee kann man irgendwann in zwei Wochen abziehen. Wenn man uns aber morgen sagte, das hier ist ein palästinensischer Staat, haut ab, dann wäre das aus der Verteidigungsperspektive sehr problematisch.

In den letzten Wochen gab es viele Debatten darüber, ob Israel militärisch gegen das iranische Atomprogramm vorgehen kann, soll, wird, und ob die Kosten nicht zu hoch wären.

Erst einmal: Wir könnten. Wir haben einen Militärschlag schon lange vorbereitet und sind dazu in der Lage. Was das Sollen angeht – es gibt einen wichtigen Grund, zu bombardieren, und einen wichtigen Grund, abzuwarten. Wir sollten zuschlagen, weil es so aussieht, als ob niemand sonst etwas unternimmt. Die aktuellen Debatten beeindrucken die Iraner nicht. Was man – damit die Diplomatie erfolgreich sein kann – braucht, ist ein Militärschlag oder die glaubwürdige Drohung damit.

In der gefährlichsten, instabilsten, explosivsten Region der Welt die Ausbreitung von Atomwaffen zuzulassen, wäre höchst unverantwortlich und würde die ganze Welt betreffen, nicht nur Israel. Unmittelbar nach dem Iran würden Ägypten, die Türkei, Saudi-Arabien Nuklearmächte werden, anschließend weitere Staaten in der Region. Viele andere Länder werden merken, daß sie den USA nicht mehr trauen können, und sie werden Schritte unternehmen, um selbst Atommächte zu werden.

Und was spricht gegen einen Militärschlag?

Nur eine wichtige Überlegung: der amerikanische Widerstand dagegen. Die iranischen Vergeltungsmöglichkeiten sind aus israelischer Sicht begrenzt. Es ist besser, eine kleine Bedrohung durch den Iran jetzt in Kauf zu nehmen als eine riesige Bedrohung später. Wir sehen, wie sich die Barbaren im Iran bereits ohne Atomwaffen aufführen, man stelle sich vor, wie sie sich mit Atomwaffen verhalten würden. Es geht also nicht darum, was der Iran tun würde, sondern wie die USA reagieren würden. Die Frage ist, ob die USA den israelischen Angriff als Möglichkeit sehen würden, dauerhaft einen nuklearen Iran zu verhindern. Ich fürchte, sie würden das nicht tun – und damit wäre auch ein israelischer Militärschlag nicht wirklich effektiv. Kurz: Ich erwarte keinen US-Militärschlag, vielleicht aber wird der amerikanische Widerstand gegen einen israelischen Angriff sich ändern.

Sie sollen die Araber als die größten Versager der Geschichte bezeichnet haben. Sehen Sie Momente im sogenannten »Arabischen Frühling«, die Sie auf eine positive Entwicklung hoffen lassen?

Es ist sehr ermutigend zu sehen, daß sich die arabische Bevölkerung der Tatsache bewußt ist, daß einer der Gründe für ihr Versagen der Mangel an Demokratie ist. Aber hier gibt es zwei Probleme. Erstens die Frage, ob man all die Vorteile der Demokratie haben kann, ohne den Preis dafür zu zahlen. Kann man beispielsweise politischen Pluralismus ohne einen Pluralismus des sozialen Lebens haben? Eine demokratische Regierung ohne Frauenrechte? Im Moment sieht man beim »Arabischen Frühling«, daß sie ohne jede gesellschaftliche Veränderung alle Vorteile der Demokratie erwarten – schon weil es Wahlen gibt. Aber Wahlen sind nur ein kleiner Teil einer offenen Gesellschaft, und ich sehe derzeit keinen tiefgreifenden Wandel der arabischen Gesellschaften in diese Richtung. Gibt es viele, vielleicht Millionen Araber, die das wollen? Ja, aber sie sind nicht organisiert. Organisiert sind die Muslimbrüder und die Kräfte, die die Realität im Nahen Osten noch weniger pluralistisch und demokratisch machen werden, als sie heute ist. Ich hoffe, die Dinge ändern sich noch, aber ich sehe keine Anzeichen dafür, daß sich in der arabischen Welt die Bedingungen für Demokratie herausbilden.

Wird Ägypten in die Hände der Muslimbruderschaft fallen?

Das ist zu einfach, denn die Muslimbruderschaft weiß, daß Ägypten scheitern wird, und das in nächster Zeit. Sie wollen nicht die Macht übernehmen, sie wollen nicht für das Scheitern verantwortlich sein, sondern vom Scheitern profitieren. Es wird in Ägypten eine kombinierte Herrschaft von Armee und Muslimbruderschaft geben, und ich denke, der Deal wird sein, daß die Muslimbruderschaft der Armee sagt: Ihr könnt die politische Macht haben, wir übernehmen die Gesellschaft. Denn wenn sie die Gesellschaft haben, so ihr Kalkül, wird ihnen letztlich auch die politische Macht zufallen.

– Interview: Jonathan Weckerle –

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