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Deutscher Krimi, doofer Krimi? Kleine Bestandsaufnahme anhand verschiedenartiger Neuerscheinungen von Taunus-Trash bis True Crime

Von Gitta List

Verbrechen und Bespaßung

»Heiter bis tödlich« heißt die »Dachmarke« mehrerer neuer Vorabendkrimiserien, die die ARD seit Oktober mit dem verheißungsvollen Slogan bewirbt: »Es darf gelacht werden zwischen Husum und Oberbayern.« Haha. »Unterhaltungsverbrechen«, spottete eine Rezensentin in der »Süddeutschen« – und verortete diese »eigentlich abstruse Konstruktion« als »noch aus der ganz alten Bundesrepublik« stammend. Die allerdings auch ganz anders konnte: Die ARD-Serie »Schwarz Rot Gold« (1982–96) etwa konzentrierte sich auf das »spröde« Thema Wirtschaftskriminalität – und war dennoch ein voller Erfolg. Die sorgfältig durchdachten, spannend konstruierten Drehbücher von Dieter Meichsner erzählten nicht von Eifersuchtsdramen, Erbstreitigkeiten, Gattenmord, sondern von kapital(istisch)en Verbrechen wie illegaler Giftmüllbeseitigung, Waffenschmuggel, Menschenhandel, Korruption. Von der Sorte Verbrechen also, die kluge Köpfe aus den Wirtschaftsseiten ihrer Tageszeitung kennen, die aber ihrer Komplexität wegen als wenig mainstreamtauglich gelten. »Schwarz Rot Gold« war in jeder Hinsicht so gut gemacht, daß selbst notorische Anhänger des Wohlfühlmords beeindruckt waren.

Doch, es gab und es gibt gute deutsche Krimis und Krimiautoren: Jörg Juretzka, Jakob Arjouni, Astrid Paprotta etwa und selbstverständlich Jörg Fauser, der sicherlich ein Solitär war. Solitäre sind aber auch Autoren wie James Ellroy und Elmore Leonard; in den USA, Irland, Schweden und Frankreich ist ebenfalls nicht alles erstklassig, was 500 Seiten hat und sich Thriller nennt. Verschnitt der Marke »Entsetzlich verstümmelte Leiche – Mordserie – Ermittlungen bringen Kommissarin in tödliche Gefahr« ist keine deutsche Spezialität, sondern ganz gewöhnliche Genreschreibe jener uninspirierten Art, wie sie überall produziert und auf den Markt gebracht wird, ob in Øland, Oakland oder Rheinland-Pfalz. Der Markt nimmt das nicht übel, im Gegenteil: Der Umsatz deutscher Verlage mit belletristischer Literatur belief sich laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2010 auf 9,7 Milliarden Euro. Innerhalb dieses Segments hält die »Spannungsliteratur« einen Anteil von 27 Prozent. Somit machen Krimis, Thriller oder Hybridformen (Hauptsache, es liegt mindestens ein Toter im Gebüsch) mehr als ein Viertel der gesamten Belletristikproduktion aus. Es läßt sich viel Geld verdienen mit den rund 800 »packenden Neuerscheinungen«, mit denen die Verlage jedes Jahr den Markt beglücken. Selbst Verlage, denen ein vernünftiges Krimilektorat zu teuer ist, machen ihren guten Schnitt. Warum also großen Aufwand treiben? Laut Börsenverein folgt der Krimi auf der Beliebtheitsskala gleich hinter dem »heiteren Roman« – und so lesen sich viele (vorzugsweise die mit Lokalkolorit) denn auch: Nele Neuhaus’ Taunus-Krimis (Ullstein/List) etwa sind Dutzendware: mehr Herzschmerz als Substanz. Ließe man die Leichen weg, taugten die von »FAZ« und »Spiegel« gefeierten Dauerbestseller problemlos als Lore-Romane.

Nichts gegen Lore-Romane (solange sie nicht als Kriminalliteratur umdekoriert sind), und schon gar nichts gegen spannende Unterhaltung. Selbstverständlich langweilt ein guter Krimiautor seine Leser nicht. Er quält sie auch nicht mit bemühten Plots, verkitschtem Lokalkolorit, unglaubwürdigen Charakteren, mißlungenen Dialogen – letzteres ist eine der auffallenden Schwächen vieler hiesiger Krimiautoren. »Das ist ein häßliches Gebrechen, / wenn Menschen wie die Bücher sprechen. / Doch reich und fruchtbar sind für jeden / die Bücher, die wie Menschen reden«, ätzte zu Recht der Schriftsteller und Kritiker Oscar Blumenthal.

Mag das Gros der deutschen Krimis enttäuschen, Bemerkenswertes gibt es immer wieder: jüngst etwa Mechtild Borrmanns Roman Wer das Schweigen bricht. Die Autorin erzählt die Geschichte eines lange zurückliegenden Verrats, der von solcher Tragweite ist, daß er, als er durch einen Zufall ans Licht kommt, neues Verbrechen nach sich zieht: Robert Lubisch will wissen, was es mit einem geheimnisvollen Foto auf sich hat, das er im Nachlaß seines Vaters findet. Er engagiert die Journalistin Rita Albers für Nachforschungen – mit fatalen Konsequenzen, für ihn selbst, aber auch für Albers. Die nämlich bekommt zu spüren, welche Folgen es haben kann, wenn Kriegskinder und Nazi-Mitläufer gezwungen sind, sich zu erinnern. Der Roman, gerade einmal 224 Seiten lang, ist dicht und straff erzählt – allein das ein kleines Kunststück, wenn man bedenkt, daß er einen Plot umfaßt, der 1998 spielt, seine Ursprünge aber in der Zeit zwischen 1939 und dem Kriegsende hat. Leider hat das Lektorat der Autorin (neben Stilblüten wie »achtlos fiel die Stola zu Boden«) die handwerkliche Unart des die Dialoge erklärenden »Sagte«-Synonyms durchgehen lassen. »The line of dialogue belongs to the character; the verb is the writer sticking his nose in«, lehrte Elmore Leonard in seinen Ten Rules of Writing. Dennoch, Borrmanns Roman ist lesenswert, auch weil er nicht zu der Sorte kommensurabler Krimis gehört, in denen die Ordnung am Ende wiederhergestellt ist und der Autor seine Leser mit den Tröstungen des polizeilichen Ermittlungserfolgs abspeist.

Das »authentische Verbrechen«

Der französische Jurist François Gayot de Pitaval veröffentlichte im 18. Jahrhundert eine Sammlung berühmter und ungewöhnlicher Kriminalfälle, adressiert an die Fachwelt und ein (äußerst!) interessiertes Publikum. »Der Pitaval« wurde zum Begriff – der heute True Crime heißt und auch unter diesem Label äußerst populär ist.

Publikationen wie Auf der Spur des Bösen (von Axel Petermann, Profiler in Bremen) oder Abgründe. Wenn aus Menschen Mörder werden (von Josef Wilfling, dem »legendären Münchener Mordermittler«, u. a. mit den Untersuchungen zu den Fällen Sedlmayr und Moshammer befaßt) finden großen Absatz; Verlage wie Militzke haben ihr Programm auf True Crime fokussiert. Die Autoren sind nicht vorrangig um literarischen Anspruch bemüht, der in diesem Genre eher gelegentlicher Glücksfall ist – aber dazu kommen wir noch. True Crime ist nicht in erster Linie belletristische, sondern Sach-, Aufklärungs- und bisweilen Entlastungsliteratur. 30 Jahre Morddezernat lassen sich vielleicht besser verkraften, wenn man darüber schreibt, ob mit Pulitzer-Ambition oder nicht. Die literarische Schlichtheit wird dadurch ausgeglichen, daß es sich beim Erzählten um Begebenheiten handelt, die sich wirklich zugetragen haben. Das allein beeindruckt Leser manchmal mehr als kühne Konstruktionen und mutige Metaphern. Life is stranger than fiction.

Ursula März kann das bezeugen. Die Kritikerin und Feuilletonistin war auch Gerichtsreporterin in Berlin-Moabit. Sie saß in Verhandlungen um große und kleine Vergehen. Die Angeklagten waren Scheusale, Schurken oder einfach nur bedauernswerte Habenichtse oder Verlierer, die ihren Traum vom Haben oder Sein verwirklichen wollten, dabei aber leider zu weit gingen: Bojan N. ruinierte die Schaufensterscheibe eines Nail-Shops – in der unseligen Mission, Maniküreschuften das Handwerk zu legen. Sonja H. schaffte einen Tischkopierer aus ihrer Firma nach Hause, weil sie vor lauter Tüchtigkeit nicht anders konnte. Mustafa X., als unbedeutender Handlanger eines Prostitutionsrings angeklagt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, erhielt seine eigentliche Strafe vom Vater, der ihn zur Unperson erlärte. Reinhard W., Zocker und Trickbetrüger, klaute vereinsamten alten Damen ihr Erspartes: »Der Beute ging es wie fein präpariertem Obst, das über Jahre in Einweckgläsern darauf wartet, bei einer exklusiven Gelegenheit verzehrt zu werden und, wenn sich diese schließlich findet, an Esser gerät, die die Köstlichkeit nicht zu schätzen wissen und sie in den Müll wandern lassen.«

Fast schon kriminell versammelt 19 Geschichten, die, auch wenn Namen, Orte, Abläufe verfremdet sind, allesamt realen Hintergrund haben. März baut aus ihrem Material eine pointierte, geschliffene Prosa, in der sie Kriminalität nicht als Ausnahme, sondern als Alltag – frei nach Marie-Luise Scherer: »ungeheuren Alltag« – begreift und begreifbar macht. Ein literarischer Glücksfall im True Crime. Star der Stunde aber ist Ferdinand von Schirach. Seine Storybände Verbrechen (2009) und Schuld (2010) gehören zu den meistbeachteten Bucherscheinungen der Saisons und werden nun verfilmt. Die Bestseller behandeln – verfremdet und literarisch durchformt – Begebenheiten aus seiner Praxis als Strafverteidiger. Von Schirach ist seit 1994 auf Kapitalverbrechen spezialisiert, Material für Geschichten hat er also genug. Zudem besitzt er eine besondere Gabe, sie zu erzählen. Seine Prosa besticht durch Verzicht. Ihre Wucht bekommt sie gerade durch die knappe, distanzierte, schnörkelfreie, zugleich jedoch hoch konzentrierte, verdichtete Diktion, mit der er zum Beispiel schildert, wie ein bis an die Grenzen gedemütigter Mann eines Tages seiner Frau den Schädel spaltet, wie »ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen« auf einem Volksfest eine 17jährige vergewaltigen – und hernach nicht verurteilt werden.

Von Schirach ist als Anwalt bekannter Persönlichkeiten selbst prominent (er vertrat Günter Schabowski und die Kinski-Familie); als Enkel des NS-Reichsjugendführers und Gauleiters von Wien, Baldur von Schirach, ist er es allemal – wobei er die einfältige, aber gern gestellte Frage »Empfinden Sie als Enkel eines Nazifunktionärs Schuld?« so knapp beantwortet, wie er schreibt: »Nein.« Seine Prominenz mag ihm nicht zuletzt beim Piper-Verlag Türen geöffnet haben – seine Storys verdienen auch ohne solchen Bonus Veröffentlichung. Sie verhandeln nämlich zudem, mehr oder weniger explizit, rechtsphilosophische Fragen – und natürlich moralische. »Verteidigung ist Kampf, Kampf um die Rechte des Beschuldigten«, zitiert von Schirach in einer Geschichte aus dem Taschenbuch des Strafverteidigers. So lautet die Definition, aber selbst wenn dieses Prinzip richtig und im Sinne der Verfahrenssicherheit gerechtfertigt ist: Schuld zu erfassen ist »eine ganz andere Sache«.

In dem Roman Der Fall Collini, den Schirach nun veröffentlicht hat, wird die Frage noch anders gewendet. Wie handelt ein Verteidiger, wenn sein Mandant eine Mordtat begangen hat, deren Opfer ein Mann ist, den der Anwalt nicht nur kannte, sondern als verläßlichen, liebevollen Ziehgroßvater stets verehrte? Wie handelt er, wenn er das Motiv des Täters als nachvollziehbar und den verehrten alten Herrn als schuldigen alten Herrn erkennen muß? Der Roman geht in die NS-Zeit zurück, Gegenstand der Verhandlung sind zuletzt juristische Feinheiten um die Rechtmäßigkeit von Partisanenerschießungen. True Crimes. Der Fall Collini ist aber ein sehr konstruiert wirkender Roman, in den noch eine Liebesgeschichte verwoben ist, was dem Fall eine Falle stellt. Und Schirach tappt hinein. Schade um seine so genial ins Deutsche geholte amerikanische Erzählweise, in der er übrigens auch mündlich brilliert – wenn er einen vernünftigen Gesprächspartner hat: Interessierten sei die Aufzeichnung eines Interviews empfohlen, das Alexander Kluge geführt hat (»Aus dem Alltag eines Strafverteidigers«, via DCTP oder Youtube). Da spricht von Schirach über die »Papiertür zwischen uns und dem Chaos«. »Die Tür«, sagt er, »ist das Verfahren«. Und das Fenster ist Kriminalliteratur, die den Namen verdient. Zu haben auch im Inland.

Mechtild Borrmann: Wer das Schweigen bricht. Pendragon, Bielefeld 2011, 224 Seiten, 9,95 Euro

Ursula März: Fast schon kriminell. Geschichten aus dem Alltag. Hanser, München 2011, 192 Seiten, 17,90 Euro

Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini. Piper, München 2011, 208 Seiten, 16,99 Euro

Gitta List gratulierte in KONKRET 11/11 Fantômas zum 100. Geburtstag

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