Warum wir die Ängste der weißen Arbeiterklasse ernst nehmen sollten.
Von Jacinta Nandi
Du hörst die Erleichterung in der Stimme, wenn weiße Mittelschichtsleute dir erzählen, wie arm und elend die ganzen Brexit- Befürworter sind. Oder in den Staaten: die Trump-Anhänger. Und in Deutschland: die AfD-Anhänger. Es verschafft eine gewisse Genugtuung. Freunde und Familienmitglieder sagen dir, sehr ernst, beim Abendessen: »Aber diese Menschen sind so arm, Jacinta, so arm, seit Jahren sind sie ignoriert worden, seit Jahrhunderten, eigentlich. Du kannst es dir gar nicht vorstellen, wie arm diese Menschen sind. Sie arbeiten Hunderte und Hunderte Jahre unter der Erde im Bergwerk, so lange, dass sie kaum mehr Menschen sind, sondern sich in so eine Art neue Spezies verwandelt haben: Homo- nicht-mehr-so-erectus. Kein Licht in diesem Leben. Keine Hoffnung. Du kannst dir nicht mal annähernd vorstellen, wie hoffnungslos und trostlos deren Leben ist.«
Im Gespräch über Trump und seine Anhänger (Anhänger*innen?) werden so Sachen gesagt wie: »Diese weißen Leute, sie sind so weiß, bei denen ist fast alles weiß: white trash, white bread, white hair. Schwarze Zähne, tätowierte Hälse. Wofür sollen die eigentlich leben?«
Die Deutschen erzählen ein bisschen weniger romantisch und poetisch von ihrer weißen Arbeiterklasse, aber sie denken auch, dass man bei Pegida und AfD hinhören müsste, weil diese Menschen sozial ausgeschlossen seien: »Wir müssen diesen Menschen zuhören, sonst gibt es vielleicht Bürgerkrieg.« In Großbritannien gibt es sogar eine Labour- Politikerin, Rachel Reeves, die fürchtet, dass im Land Krawalle ausbrechen, wenn die Immigration nicht durch den Brexit reduziert wird.
Wir müssen zuhören. Wir müssen diesen Menschen zuhören, sogar wenn sie etwas Rassistisches sagen. Ach, nee: Wir müssen, wenn sie etwas Rassistisches sagen, sogar besonders gut zuhören. Wir müssen ein Ohr für deren Ängste und Sorgen haben. Sogar, nein, gerade für ihre rassistischen Ängste und Sorgen. Weil diese Menschen so arm sind, nicht. Das einzige, was Licht reinbringt in ihr dunkles armseliges Leben, ist die Freude, die es mit sich bringt, rassistisch sein zu dürfen. Und deswegen müssen wir zuhören. Weil es sonst einen Aufstand geben könnte: einen Aufstand der Proletarier, die wie eine Armee der hungrigen Monster unsere Babys fressen wollen.
By the way: Es ist mir ziemlich scheißegal, wenn die Leute so was labern. Es nervt mich ein bisschen. Es hört sich so an, als ob der Grund dafür, dass man diesen Ängsten nicht zuhören möchte, nur Sturheit und Intoleranz gegenüber anderen Meinungen wäre. Als ob die Ängste, die die Leute vor Immigration haben, total faire und angemessene und irgendwie zumutbare Meinungen wären. Als ob der einzige Grund dafür, dass du nicht zuhören willst, ist, dass du eine sture Zicke bist. Als ob du nicht selbst Angst kriegtest, immer wenn du dir das anhören musst. Es nervt mich, dass man nicht zugeben darf, dass es für einen selbst auch beängstigend ist, dieser Immigrationsangst ständig zuhören zu müssen. Als ob das Wort Migrant nicht genau so rassistisch eingesetzt werden könnte wie Kanake. Als ob es nicht beängstigend wäre, wenn Menschen andere hassen oder aus dem Land haben wollen, weil sie braune Haut haben. Oder weil sie Muslime sind. Oder Polen. Als ob man nicht Angst bekäme, jedes Mal, wenn man merkt, dass die Menschen in England die Polen als Sündenbock für jede wirtschaftliche Misere beschuldigen. Als ob Menschen ohne weiße Haut unfähig wären, Angst zu spüren. Als ob die einzigen Ängste, die zählen, die Ängste von weißen Menschen wären. Wie gesagt, das nervt mich ein bisschen.
Was mich aber richtig wütend macht und mir auch Angst macht: diese Idee, dass nur weiße Menschen wirklich zur Arbeiterklasse gehören können. Und im Brexit-Großbritannien sogar nur weiße Menschen, die in Großbritannien geboren sind. Es ist egal, wie arm ein schwarzer Brite ist oder wie lang eine britische Inderin in der Fabrik arbeitet. Es ist egal, wie körperlich anstrengend die Arbeit einer polnischen Alleinerziehenden ist. Nichtweiße Menschen werden nie zu der verdammten Arbeiterklasse gehören.
Ich denke, dass das eine romantische, aber auch rassistische Phantasie ist. Diese Idee, dass einzig Arbeit, harte körperliche Arbeit, Arbeit auf dem Lande, rechtschaffene, achtsame Arbeit wäre – aber auch nur wenn man auf diesem Stück Erde geboren worden ist. Die weißen Arbeiter sind verdienstvoll und tapfer, ehrlich und treu. Sie sind Tess von den verdammten d’Urbervilles aus dem Roman von Thomas Hardy, nachdem Angel Clare ihr den Laufpass gegeben hat – nur noch verdienstvoller und tapferer und ehrlicher und treuer. Aber wir nichtweißen Menschen und Migranten sollten lieber nicht arm sein. Denn nichtweiße Menschen und Migranten, die arm sind, sind nicht rechtschaffen, schon gar nicht großmütig, sie haben keine Achtung verdient. Sie sind Parasiten. Heutzutage in Brexit-Britannien versucht man, diesen Begriff allerdings zu vermeiden. Die politisch korrekte Wortschöpfung für diese Menschen ist: »drains on the infrastructure«.
Die Armut der Weißen gilt als Grund dafür, dass man ihnen noch mehr zuhören müsse als sonst. Aber lasst uns das Brexit-Votum genauer angucken. Waren die 52 Prozent wirklich so viel ärmer als die 48 Prozent? Manche waren ärmer, aber manche waren sicher auch reicher. Viele waren gar nicht arm. Aber: Die Armen, die für den Brexit gestimmt haben, waren weiß. Und die Armen, die gegen den Brexit gestimmt haben, waren nichtweiß oder Migranten. Bei nichtweißen oder migrantischen Armen gilt die Armut nie als Grund dafür, dass wir diesen Menschen zuhören oder sie mehr respektieren sollen. Weil man mehr Angst vor den weißen Armen hat. Weil weiße Menschen schon allein genetisch nicht prädestiniert dafür sind, arm zu sein. Weil weiße Armut etwas Unnatürliches an sich hat.
Vor allem aber wird die weiße Arbeiterklasse ausgebeutet und als Sündenbock benutzt. Gebildete und wohlhabende weiße Menschen nutzen die weiße Unterschicht als eine Ausrede dafür, dass es Rassismus überhaupt gibt. Die weiße Elite kann so tun, als ob die Rassisten alle ungebildet und arm wären, aber gleichzeitig fordern, dass diese Ängste gehört werden müssen, sonst kriegen wir echte Probleme. So sind sie moralisch unschuldig, von den Sünden des Rassismus befreit, aber die Vorteile des praktizierten Rassismus genießen sie trotzdem. Dieses ständige Gelaber über die Ängste der weißen Arbeiterklasse erlaubt der weißen Oberschicht den Spaß des Rassismus – ohne den Nachteil der Schuldgefühle. Denn die Wahrheit ist: Nicht alle armen Menschen sind rassistisch, und nicht alle Rassisten sind arm. Das ist eine Phantasie der weißen Oberschicht, eine paranoide Phantasie, die sie aber doch tröstet.
Ich komme aus einem Ort in England, der Essex heißt, in der Nähe von Ost-London. Wir Essexer glauben, middle-class zu sein, aber wir sind es nicht wirklich. Wir sind zumindest nicht so middle-class, wie es die Middletons sind. Sagen wir es mal so: Niemand, der in Essex geboren ist, wird es jemals schaffen, Prinz Harry zu heiraten. Da, wo ich herkomme, ist es so white trash, wie England sein kann: weiße Turnschuhe, weiße Socken zum Anzug. Leute aus Essex gehen nie in die Oper. Sie fahren nie Ski. Sie spielen nicht Golf. Sie denken, dass die Menschen, die so was machen, Arschlöcher sind. Aber arm sind wir auch nicht. Wir gehören auf jeden Fall nicht zu dieser verdienstvollen weißen Arbeiterklasse, der alle zuhören müssen. Wir sind nicht verdienstvoll oder rechtschaffen, nicht großmütig genug, wahrscheinlich. Aber ich kenne viele, die für den Brexit gestimmt haben. Ich bin mit einigen von ihnen befreundet oder verwandt. Keiner von denen hat das aus einer ernsthaften Angst um seine wirtschaftliche Zukunft gemacht. Nicht ein einziger. Niemand, den ich kenne, hat aus Hunger oder Armut oder Verzweiflung oder Elend für den Brexit gestimmt. Niemand, den ich kenne, hat deswegen den Brexit gewählt, weil er oder sie gedacht hat, dass Großbritannien, wenn es nicht die EU verlässt, von einer Zombiearmee hungriger polnischer Klempner übernommen wird, die das Land plündert und den Kindern das Essen aus den Mündern reißt. Nope. Die Brexit-Befürworter haben so gewählt, weil sie davon überzeugt sind, dass Großbritannien das beste Land der Welt ist. Ein viel besseres Land als diese kleinen, unwichtigen EU-Länder, wo die Menschen Mayo statt Essig auf die Pommes tun. Im Grunde genommen fanden sie die EU einfach ein bisschen uncool. Sie haben für den Brexit gestimmt, weil es sie ankotzt, dass uncoole Streber in der EU sich erlaubt haben, dem besten Land der Welt zu sagen, wo es langgeht. Sie haben das nicht aus Angst gemacht. Sie hatten keine Minderwertigkeitskomplexe. Die Brexiter, die ich kenne, hatten alle Superioritätskomplexe. Denn das wird man doch wohl noch sagen dürfen: Viele Leute mit Geld, viele Leute aus der Oberschicht, haben für den Brexit gestimmt. Und so wird es auch bei Trump sein.
Ich will damit nicht behaupten, dass es nicht eklatante soziale Ungerechtigkeit in Großbritannien und in den Staaten gibt. Es gibt da Armut, auch Kinderarmut. Und wenn man in solchen Ländern soviel stärker besessen ist von Konsum und sozialem Ansehen als in der deutschen Gesellschaft, ist Armut noch mehr stigmatisiert als hier. Die amerikanische und britische Gesellschaft messen den Wert eines Menschen an der Menge der Dinge, die er besitzt. Was ich sagen will: Nichtweiße Menschen und/oder Migranten sind sehr oft arm. Aber zählt diese Armut nicht als Grund, den Menschen besser zuzuhören? Ich frage mich, warum das so ist. Vielleicht, weil diese Ängste für Menschen mit Geld keine Vorteile bringen? Mit diesen Ängsten kann man kein Geld machen. Eine Mauer bauen, bestimmen, wer die Krankenkasse benutzen darf und wer nicht, muslimische Immigration verbieten. Lasst uns über Angst reden. Ich hasse diese Emotion. Sie ist schrecklich. Bevor du auf die Bühne gehst, bevor du in eine Achterbahn steigst, bevor dich jemand mit dem Messer attackiert: Angst. Dein Herz fühlt sich so an, als ob es gleich aus deinem Körper rausplatzte. Ist diese Angst eine Emotion, die nur weiße Menschen spüren können, die in dem Land leben, in dem sie geboren wurden?
Lasst uns über die Angst der nichtweißen Menschen reden, die Angst der Muslime, die Angst der Polen, die in Harlow in Essex leben. Diese Stadt, in der ein Pole ermordet worden ist, weil er am Telefon polnisch gesprochen hat. Haben diese Menschen keine Angst? Ist das nicht Angst, die sie fühlen, wenn sie die Straße entlanglaufen und wissen, dass sie jede Sekunde angegriffen werden können: weil sie umgezogen sind, um in einem anderen Land zu arbeiten? Weil sie aus ihrem Land flüchten mussten? Sie sind hierhergekommen, um zu arbeiten. Um ein neues Leben anzufangen. Warum gehören sie nicht zu diesem Land? Nicht zur Arbeiterklasse? Für mich sind sie Arbeiter. Was sind das denn für Menschen in euren Augen? Zählt ihre Angst nicht? Oder soll man Ängsten nur zuhören, wenn man weiß, dass sie einem nützen könnten?
Der Text ist zuerst auf Englisch auf der Online-Plattform Media Diversified erschienen, die Beiträge von Writers of Colour veröffentlicht. Für die deutsche Fassung hat Jacinta Nandi den Text leicht überarbeitet.
Jacinta Nandi hat 2015 das Buch Nichts gegen Blasen (Ullstein) veröffentlicht