Neuer Staatspräsident Argentiniens ist der Unternehmer und Konservative Mauricio Macri.
Von Christian Dürr
Es ist Zeit, die Dinge zurechtzurücken«, verkündete am 23. November 2015 die für ihre stramm rechten Positionen bekannte argentinische Tageszeitung »La Nación« in ihrem Leitartikel. Sie meinte damit den Umgang mit der argentinischen Militärdiktatur, die zwischen 1976 und 1983 etwa 30.000 politische Gegner ermordet oder zum »Verschwinden« gebracht hatte. Es müsse endlich anerkannt werden, dass die politische Linke für die Gewalteskalation der siebziger Jahre verantwortlich gewesen sei und dass der Griff der Militärs zu Diktatur und Verfolgung nichts anderes als eine – wenn auch möglicherweise punktuell etwas überzogene– legitime Selbstverteidigungsmaßnahme des Staates war. Dementsprechend müsse auch das »beschämende Leiden« Hunderter alter Männer endlich ein Ende haben. Die »alten Männer« sind die Folterer und Mörder der geheimen Internierungszentren der Diktatur, die seit der Aufhebung der Amnestiegesetze im Jahr 2003 ihre in ordentlichen Strafprozessen ausgesprochenen Freiheitsstrafen in staatlichen Gefängnissen verbüßen (siehe konkret 10/13).
Repräsentiert der Artikel auch nicht die Mehrheitsmeinung der argentinischen Bevölkerung – tags drauf protestierte die Belegschaft von »La Nación« in einem offenen Brief gegen dessen Inhalt – , so drückt sich in ihm doch eine Hoffnung der extremen Rechten auf eine Zeitenwende aus. Das Ereignis, das diese Hoffnungen schürt, ist die am Vortag erfolgte Wahl Mauricio Macris zum neuen Präsidenten Argentiniens. Sie beendet die zwölf Jahre andauernde Ära des Kirchnerismus, in der Argentinien unter den Präsidentschaften von Néstor Kirchner (2003–2007) und seiner Frau Cristina Fernández de Kirchner (2007–2015) eine schwere wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Krise überwinden konnte.
Die Ursprünge dieser Krise liegen auch in der Zeit der Militärdiktatur. Mit den Mitteln einer brutalen Repressionspolitik wurden damals die Linke ausgeschaltet, die Entindustrialisierung des Landes vorangetrieben und ein exportorientiertes, schuldenbasiertes, neoliberales Wirtschaftsregime installiert. Dieses System wurde in den achtziger und neunziger Jahren von demokratisch gewählten Regierungen weitergeführt. Präsident Carlos Menem (1989–1999) ließ umfassende Strukturanpassungsprogramme vorantreiben, staatliche Betriebe und Infrastruktur – darunter etwa der Mineralölkonzern YPF, die Fluglinie Aerolíneas Argentinas, das Post- und Telekommunikationswesen sowie das Eisenbahnnetz – zu Schleuderpreisen an internationale Investoren verscherbeln und das Pensionssystem privatisieren. Die Bindung des argentinischen Pesos an den US-Dollar erleichterte die wachsende Kapitalflucht, die Auslandsschulden verdreifachten sich, und die Entlassungen in den privatisierten ehemaligen Staatsbetrieben führten zu steigender Arbeitslosigkeit, die Ende der neunziger Jahre Rekordwerte erreichte. Im Dezember 2001war der Staatsbankrott nicht mehr aufzuhalten. Die ökonomischen und politischen Eliten hatten ihre Einlagen bereits ins Ausland überwiesen, als die Regierung unter Präsident Fernando de la Rúa die Sperrung sämtlicher Bankkonten veranlasste. Dies war der Beginn des als »Argentinazo« in die Geschichte eingegangenen Volksaufstands vom 19.und 20. Dezember 2001, der den Präsidenten und seine Regierung aus dem Amt jagte.
Im Mai 2003 übernahm Néstor Kirchner das Präsidentenamt. Die Politik des Kirchnerismus setzte im wesentlichen auf eine Rücknahme des neoliberalen Wirtschaftskurses der neunziger Jahre. Voraussetzungen dafür waren der mit den Gläubigern, allen voran dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, ausgehandelte Schuldenschnitt, welcher die staatlichen Verpflichtungen um drei Viertel reduzierte, sowie die massive Abwertung des argentinischen Pesos gegenüber dem US-Dollar. Dem folgte die teilweise Wiederverstaatlichung wichtiger in den Neunzigern privatisierter Unternehmen (YPF, Aerolíneas Argentinas und das Post- und Eisenbahnnetz). Das Pensionssystem, das unter Menem an private Unternehmen ausgelagert worden war, welche den Großteil der Beiträge ihrer Einzahler verzockten, wurde ebenfalls wieder in staatliche Verantwortung übernommen.
Die Krise zur Jahrtausendwende hatte weite Teile der Arbeiterschaft und des Mittelstands in die Arbeitslosigkeit oder die informelle Wirtschaft abgedrängt und in Armut gestürzt. Um die Folgen abzufedern, wurden in der Ära Kirchner umfangreiche Sozialprogramme ins Leben gerufen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Seit 2009 erhalten arbeitslose oder informell beziehungsweise unter dem Mindestlohn beschäftigte Eltern für jedes minderjährige Kind einen monatlichen staatlichen Zuschuss, welcher wiederum an die Einhaltung der Schulpflicht und die verbindliche Teilnahme an staatlichen Impfkampagnen gekoppelt ist. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik spricht hinsichtlich dieser Maßnahmen von einem »dauerhaften Netz sozialer Sicherheit«, das »signifikante Auswirkungen auf die Verringerung sozialer Ausgrenzung« in Argentinien habe.
Der Kirchnerismus setzte aber nicht nur im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik neue Maßstäbe, sondern auch im Umgang mit der jüngeren Geschichte. Die Annullierung der Amnestiegesetze 2003 war der Startschuss für die Strafgerichtsprozesse gegen die Mörder, Folterer und Profiteure der Diktatur. Bis zum Jahresende 2013 wurden mehr als 550 Täter rechtskräftig verurteilt (siehe konkret 10/13). Weitere Prozesse laufen. In Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen wie den Müttern der Plaza de Mayo wurden ehemalige Folterzentren der Kontinuität militärischer und polizeilicher Nutzung entrissen und zu permanenten Gedenkorten gemacht. Ebenso wurde die Aufklärung über die Verbrechen der Militärdiktatur im Schulunterricht verankert.
Das Land blieb während der zwölf Jahre Kirchnerismus jedoch tief gespalten. Gegenwind kam für die Regierung nicht nur von den geistigen und politischen Erben der Militärdiktatur, sondern auch aus verschiedenen Sektoren der Wirtschaft. Als 2008 eine Erhöhung der Exportsteuern auf die boomende Soja-Industrie beschlossen wurde, um die Diversifikation der landwirtschaftlichen Produktion zu fördern und die staatliche Sozial- und Umverteilungspolitik zu finanzieren, brachten die Interessensverbände der Agrarproduzenten das Land mit Streiks und Straßenblockaden monatelang zum Stillstand und die Regierung in die Krise.
Verbündeter im Kampf gegen die Regierung war auch ein Großteil der privaten Medien, die in Argentinien von wenigen großen Konsortien beherrscht werden. Das größte Medienunternehmen des Landes, die Clarín-Gruppe, besitzt mehrere Tageszeitungen, Zeitschriften, Fernsehkanäle, Radiostationen, Kabelanbieter, unzählige Webportale sowie den landesweit einzigen Produzenten von Zeitungspapier. Die extreme Konzentration von meinungsbildenden Medien in Händen ökonomischer Interessengruppen ermöglichte einen jahrelangen Propagandakrieg gegen die Regierung, in dem man auch vor offenkundigen Falschmeldungen nicht zurückschreckte. Mit dem Beschluss eines neuen Mediengesetzes im Jahr 2009, welches das noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammende ablöste, sollte diese extreme Machtkonzentration daher begrenzt werden. Bis zuletzt versuchte Clarín mit allen rechtlichen und außerrechtlichen Mitteln gegen das Gesetz vorzugehen, musste am Ende jedoch einlenken, auch wenn seine Anwendung immer noch aussteht. Die Regierung wurde im Gegenzug im In- und Ausland für ihre vermeintlich autoritäre Medienpolitik gescholten.
Aus dem Umfeld dieser Gegner des Kirchnerismus rekrutiert sich die Stammwählerschaft des neuen Präsidenten Mauricio Macri und seiner Partei PRO. Macri ist Spross einer der reichsten Familien Argentiniens. Sein Vater Franco, Ende der vierziger Jahre aus Italien eingewandert, arbeitete sich zu einem der größten Wirtschaftsmagnaten Argentiniens empor. Die Macri-Gruppe umfasst heute zahlreiche Firmen, unter anderem aus dem Bausektor, der Autoindustrie, der Rohölförderung und der Telekommunikation. Für den ökonomischen Aufstieg der Familie Macri waren die guten Beziehungen zur Militärjunta wesentlich mitverantwortlich. Diese bescherten ihr lukrative staatliche Aufträge, etwa im Zuge der Privatisierung des staatlichen Müllentsorgungsunternehmens Manliba. Ebenso profitierte sie von der Übernahme der Schulden privater Unternehmen durch den Staat. Nach 1983 gingen die Geschäfte mit den demokratischen Nachfolgeregierungen munter weiter. Ein Beispiel: Als Menem 1997 die argentinische Post privatisierte, erhielten die Macris den Zuschlag. Die Folge war eine Reduktion des Personalstands innerhalb von vier Jahren von 20.400 auf 12.800. 1999 stellte das Unternehmen die vertraglichen Lizenzzahlungen an den Staat kurzerhand ein. Im Jahr 2001 meldete es Konkurs an. Die offenen Schulden gegenüber dem argentinischen Staat wurden bis heute nicht beglichen. 2003 wurde die Postunter Néstor Kirchner wieder verstaatlicht.
Bis Mitte der neunziger Jahre war Mauricio Macri vor allem Sohn und Mitarbeiterin den Unternehmen seines Vaters. Zwischen 1995 und 2008 konnte er sich als Präsident des Fußballclubs Boca Juniors erstmals auch außerhalb der Wirtschaftswelt einen Namen machen. 2005 nutzte er die gewonnene Popularität zur Gründung der Partei PRO (Propuesta Republicana), die rechtskonservative und wirtschaftsliberale Kräfte aus verschiedenen Lagern bündelte. 2007 schaffte er es schließlich in sein erstes wichtiges politisches Amt. Er setzte sich in der Stichwahl zum Bürgermeister von Buenos Aires gegen den Kandidaten des Kirchner-Lagers durch. In den folgenden Jahren realisierte er medienwirksam einige populäre Vorzeigeprojekte wie den massenhaften Bau von Unterführungen und die Einführung von Schnellbuslinien. Mit der Policía Metropolitana führte er erstmals eine eigene Hauptstadtpolizei ein. Während des Präsidentschaftswahlkampfs prahlte er mit vermeintlichen Errungenschaften im Bildungsbereich wie dem Einsatz von Laptops in Schulen und flächendeckendem Englischunterricht. Nachhaltigen Erfolg hatten diese Maßnahmen allerdings nicht. Heute ist der Großteil der schulischen Laptops veraltet oder defekt, und für den Englischunterricht gibt es nicht genug ausgebildete Lehrer.
Auf den Wahlplakaten sah man Macri stets im Dialog mit Personen, denen er Auge in Auge gegenübersteht, während der Kandidat des Kirchnerismus, Daniel Scioli, meist im Stile eines Volkstribuns von einer Bühne aus der Masse zuwinkt. Die Botschaft ist Programm. Macris erklärtes Ziel ist es, den Unternehmergeist zu fördern und »jedem einzelnen dabei zu helfen, täglich einen kleinen Schritt voranzukommen«. Leistung, man kennt das, soll sich wieder lohnen. Was man von Macri daher erwarten kann, ist der Abbau der sozialstaatlichen und nationalökonomischen Errungenschaften des Kirchnerismus und eine Rückkehr zum neoliberalen Modell der Neunziger, das schon seinen Vater und ihn selbst reich gemacht hat.
Der Kirchnerismus wiederum wird nach den Gründen der Wahlniederlage fragen müssen; er sollte dabei besser nicht bei Verschwörungstheorien rund um Medien und internationales Großkapital stehenbleiben. Vieles, was an ihm kritisiert wird, hat seine Berechtigung: Korruption und Klientelismus innerhalb des Apparats sind eine Tatsache. Die jährliche Inflation liegt real bei bis zu dreißig Prozent, die von der Regierung veröffentlichten Zahlen sind dagegen geschönt. Der Anstieg der Gehälter hält nicht annähernd mit der Inflation Schritt. Die Kontrolle des Devisenhandels hat einen ausufernden Devisenschwarzmarkt entstehen lassen. Und schließlich – und das ist zum wenigsten die Schuld der Regierung – haben die Entscheidungen US-amerikanischer Richter zugunsten jener Hedgefonds, die der ehemalige Weltbankchef Joseph Stiglitz als »Abschaum des Marktes« bezeichnet, Argentinien in eine technische Staatsinsolvenz schlittern lassen.
Wie weit wird Macri bei der Umkehrung der Politik der letzten dreizehn Jahre gehen können? Lässt er die Zombies der argentinischen Geschichte aus ihrer Gruft, ist der Protest jedenfalls programmiert. Wenn der Kirchnerismus es schafft, das vorhandene Protestpotential gemeinsam mit den linken Kräften des Landes zu mobilisieren, könnte Argentinien wieder eine turbulente Zeit bevorstehen. Die argentinische Bevölkerung hat schließlich schon mehrfach gezeigt, dass sie imstande ist, ihren Präsidenten aus seinem Palast zu jagen.
Von Christian Dürr erscheint im Frühjahr das Buch Zerlegt und neu zusammengesetzt . »Verschwundene« der argentinischen Militärdiktatur (Metropol)