Weil niemand mehr ihre Platten kauft, setzt die Klassikbranche auf ein gnadenloses Crossover.
Von Berthold Seliger
Die sogenannte Klassik steht mit dem Rücken zur Wand. Zwar sind die Philharmonien und Opernhäuser immer noch voll, wenn die etablierten Kräfte musizieren oder die von der eingebetteten Journaille gehypten Stars ihre Gastspiele geben. Doch wenn man im Konzert mal ins Publikum sieht, stellt man fest: Senioren, soweit das Auge reicht. Und Menschen, die ihre Abos absitzen, weil es bis heute zum Klassenbewusstsein gehört dabeizusein, wenn die Philharmoniker aufspielen. Die Klassik hat ein Altersproblem, daran ändern auch die wenigen herausragenden Konzertreihen wie die des Artemis Quartetts nichts, wo man Musikliebhaber/ innen aller Altersklassen antreffen kann. Die hohen Eintrittspreise tragen dazu bei, dass man sich den Distinktionsvorteil schon leisten können muss.
Was auf den Klassikpodien gespielt wird, ist ein eng begrenzter Kanon: In der Gema-Jahresauswertung, die Konzerte aus dem Bereich der sogenannten ernsten Musik auflistet, finden sich seit Jahren die immergleichen Stücke, nämlich »Peter und der Wolf« von Sergej Prokofjew (in der aktuellsten Gema-Liste auf Platz 1), »A Simple Symphony« von Benjamin Britten (Platz 2), Carl Orffs »Carmina Burana« (von Platz 1 auf Platz 4 abgerutscht) sowie Werke von Jean Sibelius und Gema-Ahnherr Richard Strauss, die wegen der Jubiläen 2014 häufig gespielt wurden (in der Gema-Liste bestimmen Komponisten des 20. Jahrhunderts das Bild, weil nur deren Werke noch unter die Schutzfrist fallen). Daran, dass der Kanon so begrenzt bleibt, wirken die Labels, die Klassikkonzertagenturen und die großen Symphonieorchester eifrig mit.
Der weltgrößte Musikkonzern, Universal, zu dem die Deutsche Grammophon gehört, will mit der Serie »20C« eine »klug konzipierte Sammlung hochrangiger Musik des 20. Jahrhunderts« veröffentlicht haben: »50 Schlüsselwerke von 50 Komponisten«. Es fällt auf, dass man Werke, die im weiteren Sinne als romantisch bezeichnet werden können, eingängige und eher leicht hörbare Musik also, bevorzugt hat: Sibelius, Karol Szymanowski, Alexander von Zemlinsky oder Vaughan Williams. Hinzu kommen Prokofjew, Leonard Bernstein oder Philip Glass. Die »Klassiker« der Moderne sind ebenfalls vertreten: Alban Berg, Anton Webern, Charles Ives oder Hans Werner Henze. Aber kein Hanns Eisler, der sicher einer der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts war, aber den Universal-Mannen wohl wegen seiner politischen Aussagen ebensowenig genehm gewesen sein dürfte wie Frederic Rzewski. Auch Luigi Nono und Morton Feldman kommen nicht vor. Dafür finden sich Günstlinge des Nazi-Regimes wie Orff oder Strauss.
Die großen Klassiklabels sind in einer verzweifelten Situation. Niemand kauft mehr ihre Tonträger. Die Charts werden hierzulande mittlerweile von zwei konkurrierenden Konsumforschungsinstituten herausgegeben: Die »Offiziellen Deutschen Charts« erhebt die GfK im Auftrag des Bundesverbandes Musikindustrie, und die »Megacharts«, in die verschiedene Kanäle bis zu Streaming und Airplay einfließen, ermittelt Media Control. Was hierzulande fehlt, sind offizielle Verkaufszahlen, wie sie in den USA oder Großbritannien selbstverständlich sind: Dort erfährt man genau, wieviele Alben und Downloads innerhalb einer Woche verkauft wurden.
Doch der Klassikbranche hilft alle Rumrechnerei nichts. Das größte Konsumforschungs-institut, Nielsen, das die offiziellen amerikanischen Billboard-Charts ermittelt, veröffentlichte 2015 dramatische Zahlen: Das bestverkaufte Klassikalbum in den USA, »Benedicta« von den Benediktinermönchen Norcias, fand als CD, Schallplatte oder Download in einer Woche gerade einmal 298 Abnehmer – in den gesamten Vereinigten Staaten. An zweiter Stelle steht ein Album von Andrea Bocelli mit knapp über 200 Käufern, alle anderen »klassischen « Alben der Nielsen-Charts konnten nur marginale Verkaufszahlen verzeichnen. Der Klassikmarkt ist praktisch nicht mehr vorhanden. Hierzulande dürfte das nicht viel anders aussehen: Zwar veröffentlicht das Branchenmagazin »Musikmarkt« unbeirrt seine Charts namens »Klassikbestseller« – allein, ein Bestseller ist allem Anschein nach nicht darunter, nicht einmal ein Normalseller: Kein einziger der Klassik-»Bestseller« vom 15. Januar, nicht mal das die Liste anführende Puccini-Album des Startenors Jonas Kaufmann, findet sich in den Top 100 der bestverkaufenden deutschen Alben. Wenn man weiß, dass für eine Chartplazierung auf hinteren Positionen heutzutage schon ein paar Handvoll verkaufter CDs oder Downloads ausreichen, ist dies ein trostloses Ergebnis.
Das Konzept (wenn man die Verzweiflungstaten der Labelmanager so nennen möchte), den Klassikmarkt nach den Kriterien des Popmarketing zu organisieren, ist gescheitert. Christian Kellersmann, »Director of Content and Creative« bei Edel Kultur und ehemaliger Generalmanager von Universal Classics (unter diesem Dach wurden Traditionslabel wie die Deutsche Grammophon, aber auch Zukäufe wie Philips oder Decca zusammengefasst), konstatierte in einem Aufsatz für die »Neue Musikzeitung« schon 2001, dass der Nachwuchs unter den Tonträgerkäufern ausbleibe und die »Käufer klassischer Musik älter und älter« würden. Diesem Trend setzte er kommerzielle Glücksfälle entgegen wie den »Titanic«-Soundtrack, Andrea Bocelli oder André Rieu, also Musik, die an Anspruchslosigkeit nur schwer zu unterbieten ist. Es müsse darum gehen, »für den Konsumenten zu produzieren«. Vor allem aber setzte Kellersmann darauf, »neue, ungewöhnliche Projekte zu wagen«, womit er ein gnadenloses Crossover meinte: »Musiker aus unterschiedlichen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Backgrounds« sollen zusammenkommen und »für gemeinsame Aktivitäten zur Verfügung stehen«. Will heißen: für jede nur erdenkliche Marketingmaßnahme. Ausstrahlung, Image und der ominöse »Unique Selling Point« seien entscheidend für den Verkauf.
Und was hat man sich angestrengt, diesen Kriterien gerecht zu werden. Man hat Sexyness auf die Albencover gebracht – wenn schon die Musik sich nicht verkauft, dann doch hoffentlich Altherrenerotik. Anna Netrebko hat man nackig in der Badewanne fotografiert, junge Violinistinnen als Geigen-Girlies vermarktet, und von Lang Lang, der jeden Marketingschmarrn mitmacht, wurde sogar ein eigenes Parfüm auf den Markt gebracht: »Amazing Lang Lang for her« und »for him«; wer nach dem Starpianisten riechen möchte, darf für 30 Milliliter 55 Euro ausgeben. Man hat alle möglichen und unmöglichen Sampler herausgegeben, von »New & Smooth. Moderne Klassik für die Seele« über »Classically Chilled« oder »Bach for Breakfast« bis zu Selbstoptimierungsmusik wie »Babyklassik. Mozart für kleine Genies « (»Fördern Sie die Intelligenz und Kreativität Ihrer Kinder durch den ›Mozart-Effekt‹ «), alle herausgegeben vom einstigen Renommierlabel Deutsche Grammophon, oder »Landlust Klassik« (Sony) für die Lodenfraktion: »Die ›Landlust‹-Redaktion hat für Sie die schönsten und bezauberndsten Titel ausgewählt, mit denen … Sie ganz einfach aus dem hektisch gewordenen Alltag zurück in die Natur fliehen können.« In der furchterregenden Reihe »Recomposed« hat etwa Max Richter Melodien aus den »Vier Jahreszeiten « »variiert, Anleihen von Minimal Music installiert«, den »Sound aktualisiert – Vivaldi kernsaniert« (Kellersmann).
Kein Wort davon, dass, »um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muss« (Ferruccio Busoni). Kein Wort davon, dass das Vergnügen an klassischer Musik in aller Regel erst entsteht, wenn man sie zu begreifen lernt. Eine Bachsche Fuge, eine Beethoven- oder Mahler-Sinfonie, ein Mozart- oder Schostakowitsch-Streichquartett funktionieren nicht als Unterhaltungshäppchen oder Wellnessangebot.
Feuilletons, Musikkonzerne und Klassikinstitutionen haben sich nicht nur auf ein Kernrepertoire geeinigt, sondern auch auf einen Interpretenstamm, der diesen bildungsbürgerlichen Kanon immer wieder neu (ein-)spielt. Ihre Wortwahl erinnert an Sportberichterstattung: Wenn ein Pianist sich am dritten Klavierkonzert von Rachmaninow versucht, nennt der »Spiegel« das eine »inoffizielle Bewerbung um Eintritt in die Weltspitze «, und das Zentralorgan bundesdeutscher Bürgerlichkeit, die »Zeit«, widmet ein ganzes Dossier einem zehnjährigen Wunderkind namens Alma Deutscher. Zigtausende verfolgen verzückt auf Youtube, wie die Zehnjährige recht hübsch Geige und Klavier spielt. Die Berliner Philharmoniker betreiben ein eigenes Label, auf dem sie hochpreisige Editionen in edler Aufmachung herausbringen, sowie einen eigenen TV-Kanal, auf dem ihre Aufführungen nur gegen hohe Pay-per-view- oder Abogebühren zu sehen sind, obwohl die Bürger/innen die Philharmoniker mit mehr als 17 Millionen Euro jährlich mitfinanzieren.
Einen anderen Weg geht das Deutsche Kammerorchester (DKO) Hand in Hand mit der Plattenfirma Edel Kultur. Dort gießt man alten Wein in neue Schläuche und hat das Sublabel Neue Meister sowie eine gleichnamige Berliner Konzertreihe gegründet und als »Klassik der Zukunft« beworben. Deren Komponisten »überraschen mit ihrer stilistischen Offenheit. Traditionelle Kompositionskunst trifft auf aktuelle Musikstile.« Man wolle, wie die Managerin des DKO sagt, »die Menschen abholen, einfach zu ihnen kommen und für sie spielen«. Dabei ist dem DKO wichtig, dass neue Musik nicht »gezwungen anders« oder gar »schräg« klingen muss. Nein, man höre und staune, sie kann »im Gegenteil sogar sehr rhythmisch und harmonisch sein«! Die Musik wird neu erfunden – als »Schwarzwaldklinik « fürs Klassikpublikum.
Da fehlt dann nur noch ein passender Sponsor. Während die Berliner Philharmoniker sich von der Deutschen Bank mitfinanzieren lassen, hat die »Neue Meister«-Reihe in dem Autokonzern, der alle Welt mit gefälschten Abgaswerten betrogen hat, einen passenden Unterstützer gefunden. Im Berliner Verkaufssalon des Konzerns, dem »Drive. Volkswagen Group Forum«, sollen die Konzerte stattfinden – Crossover im Autohaus, wo für gewöhnlich nur heruntergekommene Schlagerstars bei trostlosen Werbeveranstaltungen ihr Gnadenbrot fristen. Ab 29. Februar kann man live dabei sein, wie ein neues Klassiklabel zusammen mit einem Automobilkonzern das Crossover-Konzept gegen die Wand fährt.
Die Konzertreihe »Neue Meister« startet am 29. Februar, siehe dko-berlin.de.
Berthold Seliger hat zuletzt das Buch I Have a Stream. Für die Abschaffung des gebührenfinanzierten Staatsfernsehens (Tiamat) veröffentlicht