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Verzögerung im Betriebsablauf

Zur Erkundung einer aussterbenden Kulturtechnik: des Wartens. Von Johannes Vincent Knecht

In vieler Hinsicht sind Wartezeit und Warteräume Instrumente gesellschaftlicher Herrschaftsausübung: Wer andere warten lässt, hat Macht über sie. Der Herr verfügt über die Lebenszeit des Dieners (der ihm auf-wartet); der absolutistische Monarch zeigt dem Untertan das Maß seiner Gunst durch die oktroyierte Verweildauer im Antichambre; die Kirche verwaltet und verkauft das existentielle Warten auf Auferstehung und ewige Seligkeit; der Rechtsstaat kujoniert und ordnet die zu ihm geflüchteten Menschen, indem er sie in kafkaesker Renitenz wochenlang vor seinen Verwaltungsstellen auf der Straße stehen lässt. Es geht um Unterwerfung, Disziplinierung und psychologische Zurichtung: Der Wartende ist erst hoffnungsvoll, dann unruhig, schließlich zornig, bis er endlich weichgekocht ist und dankbar und demütig jede ihm gnadenvoll eröffnete Botschaft empfängt.

Warten als Zwang

Ein kurzer Blick auf heutige Verhältnisse genügt, um die Langlebigkeit und fortdauernde Akzeptanz vermeintlich vormoderner Wartesituationen zu erfassen, in denen sich der neofeudale Charakter des Zeitgeistes einmal mehr im Alltäglichen manifestiert: Weiterhin müssen die Subalternen und Abhängigen das ihnen zugemutete Warten von Autoritätsstrukturen und sozial Übergeordneten erdulden, worin sich immer auch Geringschätzung und ökonomische Minderwertigkeit ihrer Lebenszeit gegenüber den Wartenlassenden ausdrückt. Noch immer sehen wir uns von Konvention und Sachzwang genötigt, bei Ärzten, Behörden oder an Pfandautomaten unsere Zeit zu verschwenden. Stets ist das Warten ein Zustand der Passivität, der verfügten Fremdherrschaft und Freiheitsbeschränkung.

Die Gestaltung von Wartebereichen ist seit den einschüchternd prachtvollen Vorzimmern der Renaissancepäpste oder Ludwigs XIV. Artikulation und zuverlässiges Sinnbild sowohl des Selbstverständnisses der Autorität als auch ihres Dominanzverhältnisses zum Wartenden: Man denke an lieblos dekorierte Krankenhausflure oder die tristen Metallsitzschalen auf deutschen Ämtern, in denen man womöglich gravierende Entscheidungen oder die Mitteilung einer schicksalhaften Diagnose erwartet. Im Kontrast zeigt der niedergelassene Mediziner Kunstsinn und Solvenz, wenn er seine Privatpatienten in schicken Wartezimmern mit Espressomaschine und Hochglanzjournalen Platz nehmen lässt. Auch an Flughäfen und Bahnhöfen gibt es längst wieder das Mehrklassenwarten: bequeme Lounges für die Privilegierten, kalte Bahnsteige für die Plebejer. Nicht nur Ziel und Dauer, auch Architektur, Beleuchtung, Raumtemperatur, Geräuschkulisse, die Art der Versorgung und Sitzmöbel sowie das Angebot zum Zeitvertreib können in die kritische Analyse einer Wartesituation einbezogen werden.

Warten in diesem Sinne ist Herrschaftsmittel und Ausdruck politisch absichtsvoller Ungleichheit. Wie, wo und wie lange man wartet, hängt von Status und Vermögen ab. Wer hingegen seinem Mitmenschen respektvoll und auf Augenhöhe begegnen will, der zeigt dies eben dadurch, dass er ihn nicht warten lässt. Pünktlichkeit ist daher entgegen dem Sprichwort gerade nicht die »Tugend der Könige«, sondern erscheint – mit einem nur scheinbar barschen Wort Thomas Bernhards – als Indiz egalitärer Philanthropie: »Wer nicht pünktlich ist, ist nicht mein Freund.«

Auch im Bereich zwischengeschlechtlicher Verhaltensweisen entfaltet das Thema diagnostische Kraft und entlarvt die Unausrottbarkeit kulturell gewachsener Unterwerfungsbeziehungen. Vor allem die Frau hat in älterer Zeit nach literarischem Vorbild hoffend zu warten gelernt, entweder wie die tugendsame Jungfrau im biblischen Gleichnis auf den richtigen Mann fürs Leben oder in kindlicher Märchengläubigkeit auf den schönen (und reichen) Prinzen. Im Stand der Ehe wartete sie dann als bürgerliche Wiedergängerin der homerischen Penelope häuslich-treusorgend auf den Gatten, der sich heldenhaft und polygam in der Welt – gern auch im Krieg – herumtrieb. Erst die Protagonistinnen der großen Ehebruchsromane im 19. Jahrhundert (Anna Karenina, Madame Bovary, Effi Briest) durchbrechen die falsche Romantik des Ausharrens und bezahlen es mit dem Leben: Sie ertragen die Unterdrückung ihrer Bedürfnisse nicht mehr und stornieren die Hoffnung, der pragmatische Langweiler an ihrer Seite könnte sich doch noch in einen Märchenprinzen verwandeln.

Warten als Freiraum

Als vermeintlich moderne Menschen sind wir der Passivität des Wartens nicht machtlos ausgeliefert. Wir können der aufgezwungenen Zeitvergeudung mit Aktivität und Aneignung begegnen und so die Fremdbestimmung in Augenblicke kathartischer Selbstbestimmung verwandeln. Wartezeit, so zu eigen gemacht, ermöglicht Begegnung mit sich selbst, eine Unterbrechung des eilig und effizient geführten Tagesablaufs, einen Ausstieg aus permanent zweckorientierter Tätigkeit. Man steht in Ruhe an einer Haltestelle, blickt in den Regen, genießt die Langeweile, beobachtet Mitmenschen, lässt Gefühle und Gedanken aufsteigen, die sonst hinderlich sind. Man kann sich wahrnehmen, entspannen, besinnen, versenken, befragen.

Diese Gestaltungsoffenheit schafft Raum für assoziative und intuitive Vorgänge, die im regulären Selbstgespräch kausaler Vernünftigkeit unterdrückt sind. Im höheren Sinne kann Warten daher nach eigenem Willen ein Refugium individueller Autonomie sein, mit Affinität zu Überraschungen und schöpferischen Impulsen.

Dabei liegen – das ist diesem Thema grundsätzlich zu eigen – das Banale und das tief Bedeutsame nah beieinander. Das gilt zunächst für biografisch ernste und folgenreiche Zusammenhänge mit unbekannter Dauer: Warten auf materiellen Reichtum, auf Kinder, auf Glück, auf den Tod. Aber auch in der Zufälligkeit des alltäglichen Wartens können wesentliche Fragen, verdrängte Probleme und Ängste aufsteigen. Nervosität und Ängste, die in der Betriebsblindheit normierter Abläufe unterdrückt bleiben, steigen ins Bewusstsein: Wer wartet, soll sich aushalten können.

Die Vertreibung des Wartens

Es liegt auf der Hand, dass selbstbestimmtes Warten in diesem Sinne einen erheblichen Affront gegen das Gebot immerwährender Nützlichkeit und produktiver Selbstverwertung darstellt. Zwar lassen Staat und Kapital ihre Untertanen seit jeher gern warten, da sie keinen Respekt vor menschlicher Lebenszeit an sich haben. Immer klarer zeigt sich jedoch die gegenläufige Tendenz, Warten als (neben dem Schlafen) letzten unverdinglichten und zudem potentiell subversiven Zeitraum zu erkennen und auszumerzen. So beobachten wir zahlreiche Umformungen des Wartens, die sich zum Symptom neuer Herrschaftsmechanismen verdichten.

Lange schon dudeln in telefonischen Warteschleifen keine Vivaldi-Fragmente mehr. Statt dessen vernimmt der Anrufer Werbebotschaften und Hinweise zur prognostizierten Dauer seines Hingehaltenseins; oder er soll im Sinne eines »outsourcings to the customer« durch vorherige Tasteneingaben sein Anliegen selbst rubrizieren und so an dessen effizienter Bearbeitung mitwirken. Die Wartezeit wird geldwert genutzt, die Kosten des angerufenen Unternehmens sinken.

Augenfällig verändert hat sich das Warten in den Transitbereichen des Verkehrs, wobei die Bahnhöfe der Großstädte den Flughäfen gefolgt sind. Früher gab es dort einen Zeitungs-, einen Tabakwaren- und einen Blumenladen, heute sind die Bahnhöfe zu Einkaufszentren mit Gleisanschluss verkommen, deren architektonische Disposition vorrangig dem Ziel des zwangsläufigen Kontakts von Reisendem und Einzelhandel sowie der großflächigen Anbringung von Reklame gewidmet ist. Wartezeit wird zu Werbe- und Einkaufszeit. Der hergebrachte Wartesaal in seiner Funktion als bloßer Schutzraum ist abgeschafft, Wartebereiche ohne Nötigung zum Konsum muss hier man lange suchen. Nur die elitarisierten Bahn-Comfort-Kunden und Passagiere der ersten Klasse bekommen den Kaffee, die Zeitung und das wohlige Gefühl der Distinktion geschenkt.

Überall – in Schnellrestaurants, Behörden, an Haltestellen – wird reine Wartezeit suspendiert oder durch Zeichen, Regeln und räumliche Gliederungen zielgerichtet strukturiert. Zu solchen Maßnahmen gehört die Sortierung der Wartenden durch Nummernausgabe und Anzeigetafeln oder das Ordnen der Schlange durch Absperrbänder im Sinne des »queue management«. Auch wird der Wartende nun ständig über Grund und Dauer seiner zu opfernden Zeit informiert (bei der Bahn gern in großer Dehnbarkeit und mit Hilfe der Nonsensfloskel einer »Verzögerung im Betriebsablauf«). Es wäre ein Missverständnis, solche Lenkungstechniken als Zeichen von Service oder gar Freundlichkeit aufzufassen. Vielmehr verschleiern sie den hierarchischen Charakter der Situation und sichern der Autorität die Deutungshoheit. Im Sinne Michel Foucaults muss der Wartende durch Regelung, Überwachung und Sanktionierung diszipliniert werden, um besser kontrolliert und verwertbar zu sein. Auch im größeren Maßstab treibt der rezente Kapitalismus seiner Bevölkerung das Warten aus. Triftiges Beispiel sind die inflationären Partnervermittlungs- und Kontaktportale, die das sehnende Hoffen und Warten, die Macht der zufälligen Begegnung und die Freuden des Flirts quasi im Alleingang erledigt haben. Statt dessen lässt man sich seine Lebensmenschen oder Sexualpartner nun gegen Bezahlung oder Datenpreisgabe als Produkt eines hermetischen Algorithmus zuschanzen.

So erscheint die Abschaffung oder Ausbeutung vormals wirtschaftlich brachliegender Wartezeiten als markantes Phänomen des zeitgemäßen Konsumismus: Der Homo oeconomicus im finalen Stadium seiner Dressur soll nicht warten, denn Warten ist unkommerzialisierte Lebenszeit. Die Ausweitung spätkapitalistischer Hegemonie auf sämtliche Lebensbereiche erfordert daher auch die Urbarmachung potentiell freiheitlicher Wartezeit. Dabei spielen neben der praktischen Ausweitung möglichst ununterbrochener Wertschöpfung psychologische Gründe die Hauptrolle, denn Wartezeit im Sinne autonomer Selbstbegegnung widerspricht offensichtlich der aggressiv-dominanten Forderung an die Conditio humana im fortschreitenden Posthumanismus: Der in sich ruhende, sich selbst ertragende und sich selbst genügende Mensch ist nicht nur wirtschaftlich unnütz, sondern gefährlich.

Stöckchen, Knochen und Leine

Wichtigster Vernichter freier Wartezeit ist das mit gutem Grund sogenannte Smartphone, das sich auch in dieser Hinsicht als wesentlicher Agent und Katalysator spätkapitalistischer Menschenformung erweist. Es verwirklicht den feuchten Traum des Zeitgeistes, indem es den Benutzer verführt, seine Existenz freiwillig und lückenlos der Überwachung und Ausbeutung durch den ökonomisch-politischen Komplex zu unterwerfen. Jeder sich im Alltag eröffnende freie Zeitraum kann durch die Angebote der körpernahen Kleinelektronik mit kurzweiliger Beschäftigung gefüllt werden. Sofort wird aus dem Wartenden ein profitabler Konsument, der ebenso billig wie zuverlässig der Verlegenheit kontemplativer Selbstbegegnung entkommt. Das Smartphone ist also Mittel der Ekstase im wörtlichen Sinne: Der Benutzer wird seiner raumzeitlichen Gegenwart entführt und gerät gleichsam außer sich. Er vermeidet das Risiko innerer Einkehr, indem er die bedrohliche Leere des Wartens durch den reflexhaft gewordenen Blick zum Taschenbildschirm im Entstehen abwehrt. Entgegen dem demagogischen Wort vom »sozialen Medium« führt dieser pathologische Gewohnheitseskapismus nicht zu gedeihlichem menschlichen Austausch, sondern – diverse soziologische und psychologische Studien erweisen es – zu Narzissmus, Selbsttäuschung und Vereinzelung, vor allem aber zu Nervosität und Neid auf die simulierten Alphamerkmale sogenannter Freunde und somit zu schleichender Entsolidarisierung. Erst durch die massenhafte Bereitschaft, das eigene Sozialleben der Kontrolle und Manipulation der Privatwirtschaft auszuliefern, konnte das Smartphone jene Ubiquität und vermeintliche Unverzichtbarkeit erlangen, durch die es nun, in Verschaltung mit maschinellen Erweiterungen der Körpervermessung, den Menschen in fast allen Aspekten der Lebensentfaltung zum Leibeigenen des Kapitals im ganz unmetaphorischen Sinne gemacht hat.

Dabei folgt die psychologisch raffinierte Abgewöhnung des Wartens durch das Smartphone nicht nur dem Ziel der Durchsetzung totalitärer Überwachung und permanenter statistisch-kommerzieller Verwertung. Vielmehr stehen das Antrainieren seiner suchtartigen Verwendung und damit die Abschaffung der Wartefähigkeit im Zusammenhang einer anthropologischen Verschiebung, die mit dem Begriff der Entfremdung nur unzureichend beschrieben ist: Der Mensch, der das Warten im Sinne des Sich- Aushaltens verlernt hat, ist den Reizen, Betäubungen und emotionalen Versprechungen des Kapitals schutzlos ausgeliefert und lässt sich im Zustand latenter Unruhe und Angst gefügig an die immer kürzer werdende Leine der Verdinglichung legen. Wer sich außerhalb von Konsum- und Ablenkungszusammenhängen nicht mehr erträgt, ist leicht zu beherrschen. Anders gesagt: Wartenkönnen ist eine Form des Protestes, eine im Sinne der Menschlichkeit bewahrenswerte Fähigkeit, ein Modus der Freiheit und Insubordination.

 

Johannes Vincent Knecht lebt als Dozent und freier Geisteswissenschaftler in Essen und Berlin

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