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Aber hier leben, nein danke!

Warum sich die Recht-auf-Stadt-Bewegung nicht auf Henri Lefebvres Studie Recht auf Stadt berufen sollte. Langfassung des Beitrags von Roger Behrens aus der Rubrik buch des monats (konkret 6/16)

Um gleich mit der Tür ins Haus oder besser: dem Tor in die Stadt zu fallen – Henri Lefebvres Le droit à la ville ist ein wichtiges Buch, und es ist ein gutes Buch. Deshalb ist es wichtig und gut, dass es jetzt endlich ins Deutsche übersetzt vorliegt. Der Nautilus-Verlag hat Das Recht auf Stadt in seine Reihe Flugschriften aufgenommen, anders als die meisten anderen Bände der Reihe eine etwas dickere Flugschrift, die zu werfen – wie sonst sollte man eine Schrift zum Fliegen bringen? – gefährlich werden könnte. Tatsächlich ist Lefebvres Buch eher eine Studie oder ein Essay, auch theoretisch von angemessenem Gewicht, das nicht leichtfertig auf den zur Parole gemodelten Titel zu reduzieren ist. Mithin wird es erst in dieser Reduktion zum »Klassiker«, nämlich so, wie es der Verlag annonciert: »der Klassiker der Recht-auf-Stadt-Bewegung«.

»Kritische Stadtforscher wie David Harvey, Peter Marcuse oder Niels Boeing beziehen sich in ihrer radikalen Gesellschaftskritik auf Henri Lefebvre, der das Konzept (Recht auf Stadt; R. B.) 1968 entworfen hat«, heißt es im Klappentext. Der Verlag wirbt im Buch auch für Boings im letzten August ebenfalls als Flugschrift erschienenes Von Wegen. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft; Boing zitiert darin ein paarmal Lefebvre und widmet sein Buch den „Aktivist*innen des Hamburger Netzwerks Recht auf Stadt«. Ein solcher Aktivist ist Christoph Schäfer, der wiederum mit einem Vorwort für Lefebvres Recht auf Stadt betraut wurde. Er will Lefebvres Band als Manifest empfehlen, als Handbuch: »Die Zeit ist reif für dieses Buch. Dieses Buch ist für die, die in Städten wohnen … Es ist ganz wichtig für Euch, NGOs, Stadtteilzentren, Sozialarbeiter*innen … Es ist aber vor allem für dich, die du gerade in die Stadt gezogen bist, auf der Suche nach Abenteuern, nach Musik, nach einem leidenschaftlichen Leben … Nehmen wir uns das Recht auf Stadt! Es liegt auf der Straße, es hängt in Bäumen und versteckt sich unter Pflastersteinen. Los geht’s!«

Wohlan! Doch für solchen Aktionismus, mit dem Schäfer die Aktualität von Lefebvres Recht auf Stadt demonstrieren will, muss man das Buch nicht lesen, geschweige denn, sich mit dem auseinandersetzen, was der Autor mit der zur Parole geronnenen Formel eines »Rechts auf die Stadt« überhaupt beabsichtigt. Es reicht bis dahin tatsächlich, Schäfers Vorwort als Pamphlet zu nehmen, das nahtlos an die euphorische Erzählung von Aneignung und Teilhabe, von Stadt als unserer Fabrik und von Wünschen, die die Häuser verlassen, anschließt - eine Erzählung, die entgegen der Behauptung, keine Stellvertreterpolitik zu betreiben, ebensolche (nicht »als Gegensatz«, sondern gekonnt im Sinne einer »erweiterten, vielstimmigen Politik der ersten Person«) inszeniert; eine Erzählung, die vor allem der Selbstbestätigung dient und sich wie ein geschönter Geschäftsbericht liest, eine immer schon positive Bilanz des Einvernehmlichen: Proklamiert wird eine Politik, die gar nicht scheitern kann; und das ist das Problem, und als Problem auch das Thema Lefebvres, das wirklich und nicht bloß behauptet als »theoretische Unterfütterung« vielschichtiger Strategien des Lebens und Überlebens in den Städten diskutiert werden sollte. Gerade das Konzept »Recht auf Stadt« erweist sich nämlich mehr als experimentell und vage, mitunter sogar als inkonsequent und, gerade wenn man Lefebvre als Marxisten ernst nimmt, als undialektisch.

Es sei weder »ein Naturrecht noch ein vertragliches Recht«. Damit wäre es eigentlich als negativ bestimmt; gleichwohl setzt Lefebvre das Recht auf Stadt positiv: »In möglichst ‚positiven‘ Begriffen bezeichnet es das Recht der Bürger/Städter und der Gruppen, die sich (auf der Grundlage gesellschaftlicher Verhältnisse) bilden, in allen Kommunikations-, Informations- sowie Tauschnetzen und -kreisläufen berücksichtigt zu sein.« Das sei wiederum »die gesellschaftliche Wirklichkeit«. Allerdings hatte Lefebvre dafür bereits in der Kritik des Alltagslebens (1947, 1958) einen anderen Begriff, den er direkt der Marxschen Terminologie entnahm: Praxis. Praxis steht, wie er in Metaphilosophie (1965) dann bündig definiert, »für die im engeren Sinne gesellschaftliche Tätigkeit, d. h. für die Beziehungen zwischen menschlichen Wesen … Praxis im präzisen Sinn wäre demnach das ›Wirkliche‹ der Menschen – vorausgesetzt, man trennt es weder von der Geschichte und den geschichtlichen Tendenzen, noch vom Möglichen.«

Solche »Praxis« Ende der Sechziger als Stadt oder Recht auf Stadt zu fassen, ist gleichsam probeweise; Lefebvre präzisiert diesen Versuch in Die Revolution der Städte (1970), führt dann den Begriff aber weiter, wie in Das Recht auf Stadt angekündigt und schon in der Kritik des Alltagslebens skizziert, in Richtung einer praxisphilosophischen Kritik des Raums (nachzulesen etwa im Abschnitt „Raum und Politik“ von 1972, der sich in der Neuausgabe von Das Recht auf Stadt »anstelle eines Nachworts« findet).

Hingegen ergibt sich das Thema Stadt in den Sechzigern für konkrete Gesellschaftskritik nachgerade zwangsläufig: Im 20. Jahrhundert konsolidieren sich sukzessive klassenübergreifende und damit auch den Klassenwiderspruch überlagernde, explizit auf »das Städtische« bezogene und in »der Stadt« agierende Lebensweisen; Kritik der politischen Ökonomie heißt nunmehr immer auch Stadtkritik (so wie Stadtkritik nur als Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln ist). Thematisch steigt Lefebvre hier 1960 mit einem kleinen Text ein, den er in seine Einführung in die Modernität (1962) aufnimmt – während zeitgleich die Situationisten ihr Programm eines unitären Urbanismus formulieren; und wenn man sich drauf einlässt, kann Godards „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“ (1967) als Vorabkommentar zu Lefebvres Recht auf Stadt gesehen werden.

In der Radikalität stehen andere Lefebvre in nichts nach. Erinnert sei nur an Jane Jacobs‘ Tod und Leben großer amerikanischer Städte‹ von 1961, Alexander Mitscherlichs Die Unwirtlichkeit unserer Städte, das programmatisch mit der Anstiftung zum Unfrieden 1964 erscheint; auch Heide Berndts Die Natur der Stadt ist wegweisend (und heute, trotz Aktualität, kaum rezipiert). Die britische Soziologin Ruth Glass spricht mit Bezug auf London Ende der Sechziger erstmals von »Gentrification«. – Friedrich Engels, Camillo Sitte, Lewis Mumford und Sigfried Giedion gehen dem mit ihrer Urbanismuskritik voraus.

Seit seinen Anfängen ist der Kapitalismus an die Stadt gebunden, ja, bringt die modernen Metropolen und Megalopolen überhaupt erst hervor, und so auch das »Geistesleben« (Georg Simmel), den Urbanism as a Way of Life (Louis Wirth). Gleichzeitig ist der Urbanismus immer ein Versprechen, eine Ideologie geblieben; und so auch die Stadt: Als Ort einer menschlichen Gesellschaft und vergesellschafteten Menschheit muss sie erst noch gebaut werden. Insofern liegt Lefebvre nicht falsch, wenn er einräumt, dass das Recht auf Stadt »utopisch« erscheine: Die Erfahrung der fünf Jahrzehnte, die seit Lefebvres Buch vergangen sind, lehrt: Es ist utopisch, das Recht auf die Stadt hat keinen Ort und operiert an einem Nicht-Ort.

Das »städtische Leben«, für das Lefebvre das Recht verteidigt, muss erst noch erfunden werden. Und allein dafür fehlt ein Subjekt. Bekanntlich hat sich das Subjekt, auf das Lefebvre ‘68 in Frankreich noch ohne weiteres vertrauen konnte, das Proletariat, längst historisch blamiert. Diese Leerstelle eines Handlungssubjekts heute nonchalant mit der Multitude zu besetzen, die man dann selbst zu sein er- und verklärt, sorgt zwar im Einzelfall für ideelle und vielleicht sogar reale Stärke, um sich situativ politisch zu behaupten (und das ist unbenommen notwendig); als kritische Theorie und Praxis taugt dies allerdings nicht: weil ebendiese Multitude, diese Menge zu klein ist und in ihrem Aktionismus zu beschränkt.

Das Konzept vom Recht auf Stadt droht zu scheitern, wenn mittlerweile aus dumpfen Ressentiments und wütender Besitzstandswahrung eine rechtspopulistische Mitte ihr Recht auf Stadt als Recht auf ihren Stadtteil reklamiert: in multitudemäßig aus dem deutschen Boden schießenden Anwohnerinitiativen gegen Flüchtlingsunterkünfte. Dagegen Lefebvres Recht auf Stadt in Einsatz zu bringen (ohne bloß mit der Flugschrift zu werfen), verlangt eine Debatte, die bereit ist, über das Recht auf Stadt und seine begrenzten Bewegungen hinauszugehen.

 

Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt . Aus dem Französischen von Birgit Althaler. Mit einem Vorwort von Christoph Schäfer. Nautilus, Hamburg 2016, 222 Seiten, 18 Euro

 

Roger Behrens

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