Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne
Suhrkamp, Berlin 2016, 264 Seiten, 18 Euro
Haben wir es nicht immer schon gewusst? Schuld am schleichenden Zugrundegehen unserer famosen und gerechten Leistungsgesellschaft sind diabolische Milliardäre. Diese listigen Langnasen schleusen ihr ererbtes Vermögen ungeniert am Fiskus vorbei und vergiften damit in bösartiger Absicht die Brunnen des deutschen Wohlstands. Noch schlimmer ist da nur diese verwahrloste Unterschichtenbande. Rotzfrech lässt sie sich mit Steuergeldern mästen und gönnt sich in der sozialen Hängematte ein faules Leben in Saus und Braus.
Was klingt wie am Stammtisch aufgeschnappter Irrsinn, funktionierte in der Bundesrepublik jahrelang als große Erzählung der Mittelschicht, die sich durch die Abgrenzung nach oben wie unten als Leistungsträgerin der Gesellschaft selbst beweihräucherte. Es gab eine unausgesprochene Vereinbarung mit den Herrschenden: Wir lassen euch nicht in die Riege der Superreichen aufsteigen, dafür ist euer Leben bei angepasster Tüchtigkeit mit Arbeitsplatz, Reihenhaus, Kleingarten, Auto, Hund und Kindern bis ans Lebensende gesichert. Dass diese Zeiten längst vorbei sind, ist alles andere als ein Geheimnis. Jedes Jahr schmeißen Soziologen mit marktschreierischen, aber fundierten Studien um sich, die das Ende der zum Wirtschaftswunder verklärten Nachkriegszeit ausrufen, die Kluft zwischen Arm und Reich sich rasant vergrößern sehen und bis in die Mittelschicht hinein eine umfassende Prekarisierung aller Lebensbereiche feststellen.
Nun ist es in Deutschland mit den Soziologen so eine Sache. Sie scheinen unfähig, eine halbwegs verständliche Ausdrucksweise zu benutzen. Meist kokettieren sie sogar mit ihrem akademischen Kauderwelsch und kreieren reihenweise kompliziertestmögliche Sätze. Das trifft aus guten Gründen besonders auf kritische Sozialwissenschaftler zu: Die Behauptung, es sei alles in Ordnung, wird natürlich immer leichter verstanden als ein Einwand gegen das Gewohnte. Dass sich radikale Gesellschaftskritik aber sehr wohl in verständliche Sätze bringen lässt, hat jetzt Oliver Nachtwey bewiesen. In seinem Buch Die Abstiegsgesellschaft zeichnet der Frankfurter Soziologe den Weg von den Aufstiegsversprechen der fünfziger Jahre bis zur Gegenwart nach, in der sich Deutschland den größten Niedriglohnsektor Europas leistet, wovon besonders die vielgerühmte Mittelschicht betroffen ist.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen scheut Nachtwey das normative Argument nicht, wenn er diagnostiziert: »Unsere Gesellschaft fällt hinter ein bereits erreichtes soziales Entwicklungsniveau, das von ausgeprägter sozialer Integration, relativer Gleichheit und sozialen Bürgerrechten (aber nicht unbedingt von materieller Gleichheit) geprägt war, zurück, obwohl ihr Gesamtwohlstand wächst.« Dieser zentralen These folgt seine Analyse. Nachtwey verbindet Befunde zum Wandel der Erwerbsarbeitsgesellschaft, zum neoliberalen Umbau des Sozialstaats, zur Postdemokratie und zum kaum mehr Wirtschaftswachstum generierenden Kapitalismus mit seinem Theorem von der »regressiven Moderne«.
In der sozialen Moderne habe Ulrich Beck noch mit einigem Recht von einer Fahrstuhlgesellschaft gesprochen, die zwar bestehende Ungleichheiten nicht minimierte, dafür aber alle Schichten gleichermaßen nach oben beförderte. Dagegen dominiere in der regressiven Moderne der Verlust sozialer und solidarischer Bindungen inmitten einer fortschreitenden Liberalisierung: Mehr Menschen als jemals zuvor können studieren, Bildung sei aber keine Garantie mehr für ein Leben in sozialer Sicherheit. Die Arbeitsmarktteilhabe von Frauen sei gestiegen, sie müssen sich jedoch vor allem mit Billiglöhnen begnügen.
Anstatt sich weiter der Illusion vom Fahrstuhl hinzugeben, findet Nachtwey ein viel treffenderes Bild: »In der Abstiegsgesellschaft sehen sich viele Menschen dauerhaft auf einer nach unten fahrenden Rolltreppe. Sie müssen nach oben laufen, um ihre Position überhaupt halten zu können.« Weil jeder atemlos versuche, auf dieser Rolltreppe den besten Platz zu ergattern, ergebe sich ein grundsätzlich neues soziales Klima. Darin intensivieren sich bestehende Tendenzen, »die da oben«, noch stärker aber »die da unten« zu verachten, wodurch emanzipatorisches Aufbegehren zur Illusion werde und ein autoritäres Begehren sich in gefährlich vielen Abstiegsbedrohten melde: »Der Autoritarismus beruht darauf, dass man sich dem, worunter man im Grunde leidet, fast lustvoll unterwirft.«
Den Linken wirft Nachtwey vor, keine »plausiblen Visionen und mobilisierende Utopien« vorweisen zu können. Ihnen gehe es derzeit weniger um Umverteilung als vielmehr um formale Gleichberechtigung und wohlfeile Identitätspolitik. Ihr Job sollte es demnach viel eher sein, den in allen Parteien und Gewerkschaften noch immer verbreiteten Quatsch zu widerlegen, es gäbe ein Zurück in den behüteten Schoß der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Der Weg zur gerechten Gesellschaft könne nicht über die einfachen Antworten der Rechten führen. Sie zu stoppen, könne aber nur über Politikangebote gelingen, die Sorgen ernst nähmen und die politische Ökonomie der Gesellschaft richtig einschätzten. In den jüngsten Protesten und Streiks gegen die Prekarisierung sieht der Soziologe zwar das Potential, künftig eine neue Klassenbewegung erzeugen zu können, aktuell aber sei man davon noch weit entfernt.
Nachtwey könnte mit seinem Buch einen Anteil dazu leisten, dass sich daran etwas ändert. Selten gab es im deutschsprachigen Raum einen derart differenziert argumentierenden, stilistisch elegant formulierten und mit klarer Haltung vorgetragenen Wissenschaftsessay zu dem sperrigen Thema der Sozialstrukturanalyse. Auch wenn Kennern die Diagnose nicht neu erscheinen mag: Der Traum immerwährender Prosperität war kurz, aber offenbar so berauschend, dass sich Politiker noch immer vor Kameras stellen und verkünden, es gebe keine Klassengesellschaft mehr und jeder könne bei entsprechender Leistung alles erreichen. Und allzu viele nehmen ihnen das auch noch ab. Ein Buch wie Die Abstiegsgesellschaft, das vermeintliche Gewissheiten der Masse zerstört, ohne dafür einen elitären Duktus zu brauchen, kommt darum genau zur richtigen Zeit.
Christian Baron