Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist nicht »alternativlos«. Ein Vorschlag von Berthold Seliger
Ein Gespenst geht um in der Schweiz, es heißt »No Billag!« und lässt staatstreue wie linksliberale Politiker und Medien zähneklappernd zusammenstehen in der Verteidigung des Staatsfernsehens eidgenössischer Prägung: Am 4. März stimmen die Schweizer Wahlbürger*innen über die Abschaffung der Rundfunkgebühren ab, die die Firma Billag (im weiteren Sinn mit der GEZ vergleichbar) einkassiert. Die Schweizer Gebühren für öffentlich-rechtliche Sender sind die höchsten in ganz Europa: Rund 400 Euro muss jeder Haushalt seit 2015 bezahlen, als in der Schweiz ebenfalls via Volksabstimmung und mit denkbar knapper Mehrheit (50,08 Prozent) die bisherige geräteabhängige Gebühr in eine generelle Haushaltsabgabe umgewandelt wurde. Die »No Billag«-Initiative fordert nicht weniger als das komplette Abschalten der öffentlich-rechtlichen Sender in der Schweiz zugunsten einer reinen Pay-TV-Lösung. Den Jugendorganisationen der FDP und SVP, die die Initiative lanciert haben, geht es um Privatisierung und Herrschaft des Marktes ganz in neoliberaler Tradition. Wobei die Schweizer Medienlandschaft längst extrem »liberalisiert« und in Oligopole aufgeteilt ist, die mit dem Schweizer Rundfunk, der SRG, zum Teil eng verzahnt sind: Im Bereich der Datenverwertung zu Werbezwecken hat sich die SRG mit der halbstaatlichen Swisscom und dem Mediengiganten Ringier zusammengetan und eine Art Monopolfirma namens Admeira gegründet, den mit Abstand größten Werbevermarkter des Landes. Öffentlich-rechtlich? Pustekuchen!
Nicht anders hierzulande, wo ARD und ZDF mehr als 150 Tochtergesellschaften unterhalten, die in der Regel an den vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Gremien vorbei entstanden sind und sich der ohnedies geringfügigen öffentlichen Kontrolle weitgehend entziehen. Die Verve, mit der sich Linksliberale in der Schweiz in den Kampf für das bestehende SRG-System werfen, überrascht insofern, als nun einzig in der (an sich absolut richtigen) Ablehnung der »No Billag«-Initiative und der Festschreibung des Status quo das Glück liegen soll – wie es etwa die alternative Wochenzeitung »Woz« glauben macht, die mit »Nein zu ›No Billag‹« Postern als Beilage aufwartet.
Diese Haltung gibt es auch hierzulande, und zwar ebenfalls bevorzugt in linken, alternativen und linksliberalen Zusammenhängen. Da wird das Öffisystem gegen alle Kritiker verteidigt, die fragwürdige und extrem unsoziale Haushaltsabgabe gutgeheißen, und da werden Kritiker, die das Wort Staatsfernsehen in den Mund nehmen, angegriffen – als wären die Öffis eine Genossenschaft, so etwas wie ein öffentliches Schwimmbad oder der ÖPNV, ein öffentlicher Raum, der unbedingt schützenswert und gegen die US-Internetgiganten zu verteidigen sei. Es fällt auf, dass diese Position am vehementesten diejenigen vortragen, die da, wo es wirklich wichtig wäre, niemals Schutzräume noch Genossenschaften noch gar öffentlichen Besitz fordern würden (etwa im Bereich Wohnen, wo der Privatbesitz Mieten ins Unendliche steigen lässt).
Den Vogel schoss Carolin Emcke ab, die in der »Süddeutschen Zeitung« in dem ihr eigenen Pathos forderte, »dass jene Infrastrukturen erhalten werden, die das soziale Miteinander aller bedingen und ermöglichen«, nämlich »Orte des Lernens und der Fürsorge, Instrumente des Transports und der Vernetzung, Institutionen der Information und demokratischen Willensbildung«, also all die Worthülsen aneinanderreihte, derer sich auch all diejenigen bedienen, die wie SPD und Grüne seit Jahren Infrastrukturen aller Art massiv abbauen. Emcke verteidigt vehement »etwas allen Gemeinsames« und meint, wenn es die Öffis nicht schon gäbe, müsse man sie erfinden; ohne sie sei jede Auseinandersetzung bereits verloren. Wie darf man sich das vorstellen? Wir setzen uns im Halbkreis mit Carolin Emcke vors Fernsehgerät, fassen uns an die Hände und sehen uns das Dienstagsprogramm der ARD an? Nachmittags »Sturm der Liebe«, dann das Boulevardmagazin »Brisant«, die Quizsendung »Wer weiß denn so was«, die Arztserie »Familie Dr. Kleist«, schließlich die »Vorstadtweiber«, unterbrochen durch einige Ausgaben der »Tagesschau«, und zu bester Sendezeit die einschlägige Nonnenserie – um Himmels willen! Und all diesen Quark lassen wir über uns ergehen, weil wir uns mit Emcke »für etwas einsetzen, das der Res publica dient«?
Das Problem der Öffi-Befürworter: Über Inhalte wird gar nicht erst diskutiert, das Öffentlich-Rechtliche gilt als heilige Kuh, wer es kritisiert, gar abschaffen oder durch etwas Neues ersetzen will, über den ergeht der Bann all derer, die sich die Welt nur alternativlos vorstellen können. Sie erinnern sich gern an die siebziger Jahre, als kompetente Redakteure anspruchsvolle Fernsehspiele, kritische Dokumentationen und interessante Musiksendungen ermöglichten und sogar einen Herbert Marcuse eine Stunde lang interviewen ließen. Die Samstagabendshow hieß »Wünsch dir was« und reflektierte auch mal Familienstrukturen oder Mülltrennung, und am Montag konnte man am Arbeitsplatz über die transparente Bluse einer Kandidatin diskutieren – ein echter Aufreger!
Neben unbedingter Staatstreue eint die reformerischen Linken, dass sie sich mit dem herrschenden System abgefunden haben. Was die Befürworter des sozialdemokratischen Fernsehens übersehen, ist die gesellschaftliche und technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Als das öffentlich-rechtliche TV erfunden wurde, diente es als Vollprogramm, weswegen der Rundfunkstaatsvertrag als Aufgaben »Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung« festschreibt – was ARD und ZDF systematisch ignorieren (abgesehen vom Unterhaltungsauftrag, den sie mit all den dumpfen Volksmusikstadln und der kitschig-kuscheligen Degeto-Welt übererfüllen). Besonders die Einführung des Privatfernsehens machte die Notwendigkeit des Vollprogramms obsolet. Verantwortlich dafür war die sozialliberale Bundesregierung Helmut Schmidts, Helmut Kohl hat dann das Privatfernsehen massiv vorangetrieben, nicht zuletzt, um den als »Linksfunk« verpönten Sendern etwas entgegenzusetzen. »Unsere Politik bezüglich RTL Plus war immer darauf ausgerichtet, eine Anbindung von RTL an das konservative Lager zu sichern beziehungsweise ein Abgleiten nach links zu verhindern«, schrieb Edmund Stoiber, damals Leiter der bayerischen Staatskanzlei, an seinen Chef Franz Josef Strauß.
Doch der Siegeszug des Privatfernsehens hatte einen weiteren Effekt, mit dem seine Förderer kaum gerechnet haben dürften: Er führte dazu, dass die Öffis ihr Programm dem der Privaten anpassten. Kann heute noch jemand sagen, worin der Unterschied zwischen den Telenovelas von ARD und RTL besteht? Spielfilme laufen sowieso längst auf allen Sendern, und die spannendsten Serien stellen Netflix und HBO her.
Und das Informationsangebot, das die Öffifans so einmalig finden? Wer die Nachrichtensendungen von ARD, ZDF & Co. analysiert, stellt eine immense Staatsnähe fest. »Tagesschau« und »Heute« tragen nicht dazu bei, die Welt zu begreifen, sondern verwandeln die Realität in eine endlose »Lindenstraße«. Denken wir an die Berichterstattung über Griechenland, die Ukraine oder Syrien – da wirken die »Flaggschiffe« der Sender wie Ideologiemaschinen von Regierung und Nato, eben: Staatsfernsehen. Und wer derartige Nachrichtensendungen und »politische Talkshows« hat, braucht kein Propagandaministerium mehr. Hinzu kommt die sedierende Funktion des Unterhaltungsprogramms (am teuersten: der Sport).
Niemand, der noch bei Trost ist, kann sich eine Fortsetzung dieses Zustands wünschen. Zumal es da jetzt dieses Dingens namens »Neuland« gibt. Eine Plattform, die jederzeit auf verschiedensten Geräten zur Verfügung steht und die es allen ermöglicht, nicht nur zu empfangen, sondern auch zu senden, ganz, wie es sich Bertolt Brecht in seiner Radiotheorie vorgestellt hat: »Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln«, er soll also »den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen machen, ihn nicht isolieren, sondern ihn in Beziehung setzen.«
Wie wäre es denn damit, an einer Art öffentlich-rechtlicher Internetplattform zu arbeiten? Wo Filmessays jenseits der fernsehüblichen Bildpolitik und Zeitbeschränkung möglich sind, wo es tiefergehende Diskussionen gibt, wo der »Perlentaucher« ein gut gemachtes Feuilleton herausgibt, Konzertveranstalter Live-Mitschnitte aus Pop, Jazz, World oder Klassik und konkrets Gremliza seine Kolumnen, Prinzessinnenreporterin Marit Hofmann ihre Betanzungen und Thomas Ebermann seine Firmenhymnen veröffentlichen – und zwar sämtlich fair finanziert aus Steuermitteln? Aufgabe einer derartigen, im besten Sinn öffentlichen und staatsfernen Plattform wäre es, all das an Politik und Kultur bereitzuhalten und zu ermöglichen, was sonst nicht stattfindet. Das können auch besondere Spielfilme oder Serien sein, die dann ohne die TV-typische inhaltliche und ästhetische Zensur auskämen. »Panorama«, »Monitor« oder »Die Anstalt« würden auf dieser Plattform ebenfalls zu sehen sein, und zwar immer dann, wenn die entsprechenden Redaktionen genug Material für eine gehaltvolle Sendung zusammenhaben – also jenseits aller steifen und unflexiblen Sendeformate und diktatorischen Programmkorsette.
Auf dieser Plattform stehen alle bisher von Öffentlich-Rechtlichen erstellten Inhalte kostenlos und langfristig zur Verfügung, denn die Bürger*innen haben diese Sendungen ja bereits mit Gebühren finanziert – man kann also endlich jederzeit Rainer Werner Fassbinders »Acht Stunden sind kein Tag« oder Eberhard Fechners legendäre Dokumentationen sehen, um nur mal zwei Beispiele zu nennen, die in den Fernseharchiven auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind. Die hervorragenden Rundfunkensembles, die für die kulturelle Vielfalt so wichtig sind, würden bestehen bleiben. Finanzierbar wäre all das mit Steuermitteln und würde nur einen Bruchteil der mittlerweile etwa neun Milliarden Euro kosten, die ARD und ZDF alljährlich verschlingen. Man könnte sogar darüber nachdenken, ob jedem Haushalt eine Art Medienbudget zur Verfügung gestellt wird: Ein Teil könnte in die Plattform gehen, ein anderer für Zeitungsabos, das Webradio Byte FM oder örtliche Medienwerkstätten genutzt werden. Eine Utopie, gewiss – aber nur, wenn wir das Bestehende radikal in Frage stellen und etwas Neues zu entwickeln suchen, wird es uns gelingen, uns der medialen Umarmung des Staatsfernsehens auf der einen und der Internet- und Mediengroßkonzerne auf der anderen Seite zu entziehen. Nein zu »No Billag« ist noch keine Lösung!
Berthold Seliger ist Autor des Buchs I Have a Stream. Für die Abschaffung des gebührenfinanzierten Staatsfernsehens (Edition Tiamat)