Die Debatte um die Essener Tafel: ein Fall von Ethnisierung der Bedürftigkeit.
Von Kay Sokolowsky
Mitte Februar verordnete Jörg Sartor, der Leiter des Vereins Essener Tafel, dass vorerst keine neuen »Nutzerkarten« mehr an Ausländer ausgegeben werden. Sartors Auskunft nach fühlten sich alte Leute und Mütter mit Kindern be- und verdrängt von Flüchtlingen, jungen Männern zumal, die es nicht so mit den Manieren hätten. »Viele verhalten sich anders«, erzählte Sartor am 24. Februar der »WAZ«. »Die Anstellmentalität ist häufig nicht so da, die Erwartungshaltung ist höher.« Die (seit Ende März wieder aufgehobene) Trennung zwischen Deutschen und Menschen ohne Anstellmentalität verursachte reichlich Aufruhr. Sartor und seine Tafelritter wurden von links als »Nazis« beschimpft, von besorgten Bürgern und anderen Rassisten gefeiert wie Helden.
Der Essener Kreisverband der AfD drückte am 1. März aus, was die Partei und ihre Sympathisanten an der Rassentrennung bei der Brosamenverteilung so freut und wie sie alle den Begriff Menschenwürde verstehen: »Essener Tafel handelt nicht menschenunwürdig! … Die sogenannten Flüchtlinge und Asylbewerber sind in unserem Land mehr als ausreichend versorgt.« Wieso die Sogenannten sich dann in einer Suppenküche abspeisen lassen, verrät die Hetzdepesche nicht. Dass Einrichtungen wie die Tafeln prinzipiell menschenunwürdig sind, kommt den Alternativdeutschen gar nicht in den kurzen Verstand; doch diese Ignoranz haben Rechte nicht exklusiv.
Sartors Begründung für die Segregation – der Ausländer drängelt und stellt Ansprüche – passte den AfD-Volkskundlern jedenfalls bestens ins Konzept. Den »meisten Bürgern«, geiferten sie, sei »das vielfach bedrohliche und fordernde Verhalten von Zuwanderern auch in anderen Bereichen des täglichen Lebens mittlerweile unangenehm aufgefallen«. Es kommt ja immer wieder vor, dass Zuwanderer den Bus benutzen und stolzen Deutschen die Sitzplätze wegnehmen. Manche wühlen sogar im Mülleimer nach Pfandflaschen, ohne eine Nutzerkarte vorweisen zu können!
Die halluzinierte Bedrohung reicht den blauen Braunen aber nicht, sie haben auch eine Erklärung, die ihrem Wahn Sinn geben soll: »In diesem Zusammenhang muss man sich vor Augen halten, dass viele Zuwanderer der letzten Jahre aus Ländern und Kulturkreisen kommen, in denen das Recht des Stärkeren gilt. Diese Lebensweise haben sie mitgebracht und praktizieren sie auch bei uns.« Womit, möchte man meinen, die Migranten die besten Voraussetzungen für die Integration ins hiesige System mitbringen und alsbald ein Praktikum beim AfD-Kreisverband Essen beginnen könnten.
Die bösartige Rede über Ausländer, die den Hals nicht vollkriegen und noch frech werden, richtete sich an die besonders tumben Landsleute. Der xenophobe Bürger, der sich auf sein Abitur was einbildet, zitiert gewiss lieber Sahra Wagenknecht, die am 24. Februar im Deutschlandfunk das Elend in Essen auf die »Flüchtlingskrise« zurückführte und warmes Verständnis für Sartors Ausländerstopp äußerte: »(Es) geht darum, dass nicht ausgerechnet diejenigen, denen es sowieso nicht gut geht, jetzt auch noch die Lasten der Zuwanderung tragen. Und das ist die Konsequenz der Politik der Bundesregierung.« Im einzigen humanen Regierungsakt, den Merkel nachweisen kann, erkennt Wagenknecht nur »sehr, sehr viele Probleme, die sich verschärft haben«.
Zwar fordert sie – was keinem AfDler einfiele – höhere Sozialleistungen. Aber sie hält es – wie jeder AfDler – einfach für unmöglich, es könnte armen Deutschen besser gehen, so lange so viele Undeutsche hier herumhungern: »(Es) ist auch nicht unsere Position, dass es in erster Linie darum geht, möglichst viele Menschen nach Deutschland zu holen, das ist ganz klar, kann keine linke Position sein.« Als würde, als müsste irgendwer diese Menschen »holen«, als wäre Solidarität mit jenen, die Not leiden, nicht eine linke Position schlechthin! Wie die Sammlungsbewegung aussehen soll, für die Wagenknecht wirbt, ist nun immerhin etwas klarer, und Alexander Gauland darf sich in seiner Ansicht bestätigt fühlen, dass die Fraktionsführerin der Linken »gut zur AfD« passen würde.
Sie passte nicht schlechter zu den Regierungsparteien. Obwohl es von denen heftige Kritik an der Ethnisierung der Bedürftigkeit setzte, haben sie in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass Bedürftige mit der falschen Ethnie Deutschland am besten nicht betreten sollen, und wenn sie schon da sind, so schnell wie möglich wieder vertrieben werden. Die Kanzlerin, die längst bereut hat, 2015 ein paar Wochen lang ein fühlender Mensch gewesen zu sein, rügte die Selektion an der Essener Resterampe als »nicht gut«, man »sollte nicht solche Kategorisierungen vornehmen«. Dass die Kategorisierung von Menschen zum »Markenkern« der CDU gehört, weiß sie selbstverständlich. Und es hat durchaus was Obszönes, wenn die Frau, unter deren Regentschaft die Zahl der Tafel-Abhängigen auf 1,5 Millionen angestiegen ist, die Ehrenamtlichen ermahnt, moralischer zu handeln als der Staat, den sie für die Herrschaft verwaltet.
Kathrin Hartmann hat bereits 2012 in ihrem Buch Wir müssen leider draußen bleiben (Blessing) beschrieben, wie stark Ruf und Wirklichkeit der Tafeln sich unterscheiden. In einem »Focus«-Interview fasste sie zusammen, was sie vor Ort beobachtet hatte: »Die Rollen sind da recht klar verteilt: Die einen verteilen, die anderen müssen dankbar sein für das, was die Gesellschaft übrig gelassen hat. … Sicher kommt auch mal ein Gespräch zustande, aber ein Kontakt auf Augenhöhe entsteht da nicht: Es gibt Gönner und dankbare Opfer.«
Und einer dieser Gönner, die nicht jedem was gönnen, ist Jörg Sartor, SPD-Mitglied, klassischer Proletarier (nämlich frühverrenteter Bergmann) und laut Mariam Lau von der »Zeit« mit »einem Herzen von der Größe Nordrhein-Westfalens« ausgestattet. Ob so ein Trumm noch schlagen kann? Jedenfalls nicht links, auch wenn die bewährte Einfaltspinslerin Lau das behauptet (»Der ideale Sozialdemokrat«). Zur »WAZ« sagte Sartor: »Es ist so, dass viele meinen, wir wären verpflichtet, Lebensmittel auszugeben, wir wären eine staatliche Einrichtung. Sind wir aber nicht. Es ist ja nicht so, dass sich nur unsere Kunden nicht mehr wohlgefühlt haben, sondern auch unsere Mitarbeiter.«
Dass Sartor redet wie der Chef eines Supermarkts, merkt er gar nicht, obgleich er sich so fühlt. Vielleicht wäre seinem Unwohlsein abgeholfen, müssten die Fremdlinge künftig für die Nutzerkarten bezahlen. Sind doch eh nur aus Daffke da, denn: »Wenn wir morgen hier die Tür abschließen, verhungert in dieser Stadt kein Mensch.« Die Stadt heißt schließlich Essen.
Kay Sokolowsky schrieb in konkret 3/18 über einen Auftritt des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz bei »Maischberger«