Heimatminister Horst Seehofer wendet sich an seine Untertanen und wird grundsätzlich. Von Thorsten Mense
Es sollte wohl ein Manifest sein, was Horst Seehofer am 30. April in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (»FAZ«) unter dem Titel »Heimat« veröffentlichte. Darin erklärt der neue Minister den hilflosen kleinen Leuten, warum Heimat (und damit er selbst) die Antwort auf ihre allgemeine Verunsicherung ist. Viele seien »heimatlos«, und damit meint er nicht jene, die vor Hunger oder Gewalt geflohen sind, sondern die Menschen hierzulande, die aufgrund des rasanten sozialen Wandels und der Ankunft der Migrantinnen und Migranten »überfordert« und »orientierungslos« seien. Es brauche daher einen neuen Zusammenhalt, ein neues Gefühl der Zugehörigkeit. Da Leitkultur und Nation zu »streitbelastet« seien, soll nun Heimat zur neuen Basis der kollektiven Identität werden. Und bekanntlich ist das wichtigste Element der kollektiven Identitätsbildung die Markierung des Fremden, des Nicht-Zugehörigen.
»Nicht jeder, der über Arbeit, deutsche Sprachkenntnisse und ein leeres Vorstrafenregister verfügt, ist zwangsläufig integriert in unsere offene Gesellschaft. Das gilt für Zuwanderer wie für deutsche Staatsbürger gleichermaßen. « Mit einem rhetorischen Trick schafft es Seehofer hier, den völkischen ebenso wie den verfassungspatriotischen Flügel seiner Leserschaft anzusprechen. Denn von rechts gelesen steht hier, dass auch die deutsche Staatsbürgerschaft nicht ausreicht, um als Deutscher zu gelten. Eine Grundforderung der AfD, die viele in CDU und CSU teilen, nur sich nicht trauen, sie offen auszusprechen. In verfassungspatriotischer Lesart wiederum besagt der Satz, dass selbst Biodeutsche Fremdkörper sein können, wenn sie sich nicht der Leitkultur unterordnen. Ob damit gewalttätige Neonazis, Autonome in Hamburg oder bereits die queere Patchwork- Familie gemeint sind, bleibt offen. Was nicht offenbleibt, ist, dass Arbeitslose außen vor sind, womit der Sozialchauvinismus seinen verdienten Platz im Heimatdiskurs bekommen hat.
Als Beispiel guter Integration wird der Vorzeigemigrant und Kabarettist Django Asül genannt. Nun, auch in den USA der fünfziger Jahre jubelten Anhänger/innen der Segregation schwarzen Jazzmusikern zu – solange sichergestellt war, dass sie ihnen nach dem Konzert nicht auf dem Klo und vor allem nie in Machtpositionen begegnen würden. In dem, was hier weltoffen daherkommt, zeigt sich die prägende Blut-und-Boden-Ideologie. Denn obwohl in Deutschland geboren, muss sich Uğur Bağişlayici offensichtlich erst als vollwertiger Deutscher beweisen. Das schafft der nach Selbstauskunft »überzeugte Niederbayer«, indem er sich schon im Künstlernamen über Geflüchtete lustig macht und harmlose, unpolitische Witzchen reißt. Anders als Deniz Yücel, der ungenannt bleibt, obwohl jüngst an seiner Person im Bundestag die Frage, »was« und vor allem »wer« deutsch ist, verhandelt wurde. Um nichts anderes geht es im Heimatdiskurs.
Statt der erwarteten Beschwörung christlicher Werte und deutscher Leitkultur finden sich in Seehofers Heimat-Manifest nur intellektuell drapierte Worthülsen und viel Gefühlsduselei (»sich zusammengehörig fühlen «), angereichert mit Kulturpessimismus und ein wenig Kapitalismuskritik: Ursache der Verunsicherung sei der »ökonomische Liberalismus« mit seinen »unregulierten und grenzenlosen Märkten«, der die Alltagswelt der Menschen durcheinandergewirbelt habe. Es ist einigermaßen komisch, diese Sätze von einem ehemaligen CSU-Vorsitzenden zu lesen. Gleiches gilt, wenn der Großbourgeois Seehofer abschätzig von einer »wirtschaftlichen Elite« schreibt, für die sich die Globalisierung »im wahrsten Sinne des Wortes positiv ausgezahlt hat«.
Was nach Globalisierungskritik à la Attac riecht, bedient zugleich das antisemitische Ressentiment, das im Heimatdiskurs steckt. Heimat in Abgrenzung zur wurzellosen und kosmopolitischen Elite, zu den Heuschrecken und Globetrottern, denen es nur um Profit oder ihr eigenes Vergnügen geht, ohne Bezug zu Mutter Erde und ohne Opferbereitschaft fürs Vaterland. Dementsprechend wird Globalisierung als gegen die Interessen »der kleinen Leute« gerichtetes »Projekt« beschrieben und nicht als historische Entwicklung, die im übrigen, anders als Seehofer behauptet, bereits lange vor dem Ende des Kalten Krieges begonnen hatte. Aber zu Zeiten der Blockkonfrontation war die Welt eben noch in Ordnung, Freund und Feind waren markiert, und keine »unkontrollierte Massenzuwanderung« sorgte für Unruhe und Unsicherheit.
Man kann sich angesichts dessen, was Seehofer sonst an politischer Rhetorik dargeboten hat, sicher sein, dass er diesen Artikel nicht selbst verfasst hat. Im Gegensatz zum rechtsradikalen Gerede seiner Parteikolleginnen und -kollegen und nicht zuletzt seiner selbst wird in seinem Manifest nicht offen gegen Migrantinnen und Migranten oder den Islam gepöbelt, sondern eine modernisierte Form der Heimattümelei geboten. An ihr kann man sehen, wie die Integration der Deutschen in die aktuelle Volksgemeinschaft vonstatten gehen soll. Nicht Herder oder Goethe, sondern Willy Brandt, Winfried Kretschmann und Joschka Fischer werden für die Heimat in Stellung gebracht. Und aus Deutschland wird »der Ort in der Mitte Europas«, der »seit Jahrhunderten« Menschen zur Heimat wurde, weil sie sich hier geborgen fühlten. Während Seehofer sogar seine politischen Feinde in die Gemeinschaft integriert, ist für diejenigen, die im letzten Jahrhundert zu Millionen im Namen der deutschen Heimat vertrieben und vernichtet wurden, selbst in der Erinnerung kein Platz.
Immerhin stellt der Text die Frage nach den Ursachen der kollektiven Verunsicherung und benennt auch materielle Gründe – jedoch so verkürzt, dass sich die Erkenntnis in ihr Gegenteil verwandelt. Nicht steigender Konkurrenz- und Leistungsdruck in Verbindung mit der Erosion der Sozialsysteme, nicht die immer offener zutage tretende Tatsache, dass der Kapitalismus unentwegt Überflüssige produziert, ist hierfür verantwortlich, sondern die »Entgrenzung aller Lebensverhältnisse «. Entgrenzung ist das Wort, welches für Seehofer alles Übel der modernen Welt charakterisiert.
Alles ist möglich, keine Tradition mehr heilig, die Menschen überfordert angesichts grenzenloser Freiheit. Damit legt der Heimatminister zugleich eine Formulierung vor, der sich die immer noch viel zu leise Kritik an der um sich greifenden regressiven Sehnsucht nach natürlicher Zugehörigkeit annehmen sollte. Denn die »Entgrenzung aller Lebensverhältnisse « ist Utopie. Sie bedeutet nicht nur das Ende der Grenzen, sondern auch das der Sach- und Arbeitszwänge, sie ist die Antwort auf den Mief der Provinz ebenso wie auf traditionelle Rollenbilder und Familienstrukturen. Eine Welt, in der für alle alles möglich ist. Entgrenzt ist ein kosmopolitisches Bewusstsein, das Freiheit als Ziel setzt und nicht für eine Bedrohung hält.
Thorsten Mense schrieb in konkret 2/18 über die Regionalwahlen in Katalonien