Immer häufiger fällt linke Identitätspolitik in Kulturalismus zurück. Von Michael Bittner
Die Wut, die zivilisierte Menschen angesichts der Erfolge Donald Trumps überkommt, lässt sich durch die unverschämte Unanständigkeit erklären, der er seine Siege verdankt. Trump verkörpert den Charaktertyp des »Bully« vollkommen, er ist ein Meister des Mobbings, der es glänzend versteht, seine Gegner lächerlich zu machen, zu erniedrigen und zu beleidigen. Dies alles gelänge ihm nicht ohne ein feines Gespür für die Schwächen seiner Feinde. Ein Schimpfname wie »Crooked Hillary « (korrupte Hillary) konnte an seiner Gegnerin im Präsidentschaftswahlkampf nur hängenbleiben, weil Clintons tatsächlich intrigantes und rücksichtsloses Wesen ihm Halt bot.
Eine andere Lieblingsgegnerin Trumps ist die Senatorin Elizabeth Warren, eine Juraprofessorin, die in der Ära Barack Obamas als Vorkämpferin des Verbraucherschutzes und der Bankenregulierung zu einiger Popularität gelangte und inzwischen zu den Stars des linken Flügels der Demokratischen Partei zählt. Trump bezeichnet sie mit Vorliebe als »Pocahontas«, ein Spottname, der sich auf Warrens Behauptung bezieht, sie stamme mütterlicherseits von amerikanischen Ureinwohnern ab. Scott Brown, ihr Gegner im Kampf um einen Senatssitz von Massachusetts, erhob als erster den Vorwurf, Warren habe sich zu Unrecht als Person of Color ausgegeben, um berufliche Vorteile zu erlangen. Er forderte sie auf, ihre angebliche Abstammung durch einen Gentest nachzuweisen. Warren lehnte das ab. Sie beruft sich statt dessen auf Erzählungen ihrer Eltern sowie die »hohen Wangenknochen« in ihrer Familie. Spott über ihre Behauptungen wies Warren als »rassistisch« zurück. Wie alle Rassisten der Gegenwart versäumte es der US-Präsident nicht, den Vorwurf zurückzugeben: »Sie hat ihre Herkunft erfunden, ich denke, das ist rassistisch. Ich denke, sie ist eine Rassistin, denn was sie gemacht hat, war wirklich sehr rassistisch.«
Die Motive, die Trump zu diesem Angriff treiben, sind durchsichtig. Dennoch bleibt auch bei Beobachtern, die nicht zu den Fans des Präsidenten zählen, ein Unbehagen zurück. Wieso dilettiert eine angeblich progressive Politikerin in der zum Glück vergessenen Wissenschaft der Schädelkunde? Weshalb bemühen sich ihre Anhänger, Belege dafür zu sammeln, Warren sei wirklich und wahrhaftig zu »1/32 amerikanische Ureinwohnerin «? Welch seltsamem Blutkult frönen hier plötzlich Linke? In der Geschichtswissenschaft unterscheidet man traditionell zwischen dem völkischen Nationalismus des Ostens, der aus Vorstellungen gemeinsamer Abstammung und Kultur erwachse, und dem Nationalismus des Westens, der sich durch eine stetig erneuerte demokratische Selbstkonstitution legitimiere. Diese idealtypische Unterscheidung verstellt allerdings den Blick darauf, dass alle Nationalismen sich aus beiden Quellen speisen. Gerade in den Vereinigten Staaten geht demokratischer Patriotismus mühelos mit dem Stolz auf das ethnisch-kulturelle »Erbe« der eigenen Bevölkerungsgruppe zusammen. So erklärt sich die Unbeschwertheit, mit der viele Amerikaner die zweifelhafte Kategorie der »Rasse« für Selbst- und Fremdzuschreibungen verwenden.
Eine giftige Diskussion um ihre »Heritage « erlebte auch eine andere demokratische Senatorin: Tammy Duckworth aus Illinois, eine ehemalige Hubschrauberpilotin, die im Irak-Krieg beide Beine eingebüßt hat, inzwischen bekanntgeworden als erste Senatorin, die ihren Säugling zur Arbeit mitbrachte. In einer Wahlkampfdebatte versuchte Duckworth, die Amerikaner mit der Erzählung zu beeindrucken, sie stamme väterlicherseits aus einer Militärfamilie, die schon in der Amerikanischen Revolution gekämpft habe. Ihr republikanischer Gegner erwiderte im Fernsehduell, diese Vorfahren müssten dann wohl aus Thailand gekommen sein, um George Washington zu dienen. Duckworths Mutter ist eine Auslandschinesin, die ihr Vater während des Militärdienstes in Thailand geheiratet hat.
Auch in diesem Fall überrascht weniger die rassistische Kleingeistigkeit, die den Republikaner letztlich den Sieg kostete, als der politische Ahnenkult der demokratischen Politikerin. Duckworth bezeichnete sich in der Debatte als »Tochter der Amerikanischen Revolution«. Die gleichnamige Organisation versammelt seit 1890 unter dem Motto »Gott, Heimat und Vaterland« ausschließlich Frauen, die angeblich von Revolutionshelden abstammen. Die Auswahl nach dem Herkunftsprinzip entspricht offenkundig aristokratischen, nicht aber demokratischen Prinzipien. Tatsächlich waren die »Töchter der Revolution« lange nichts als eine Institution zur Bewahrung der Dominanz der weißen, protestantischen, angelsächsischen Elite gegenüber den Nachkommen der Sklaven und späteren Einwanderer. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg hielten die höheren Töchter vielfach an einer Politik der Rassentrennung fest. Erst in jüngerer Zeit öffnete sich Screenshot die Organisation für »schwarze« Mitglieder – die allerdings noch immer ihre Abstammung von einem »weißen« Revolutionär nachweisen müssen. Wer ist bedauernswerter: Weiße, die sich die Verdienste ihrer vermeintlichen Vorfahren zuschreiben, oder Nichtweiße, die sich mühen, von dieser Pseudoelite anerkannt zu werden
Gleichsam das Negativ zu dieser Farbverwirrung ist die im Jahr 2015 viel diskutierte Geschichte von Rachel Dolezal, einer amerikanischen Dozentin und Künstlerin, die sich nicht nur für die Rechte der Black Community engagierte, sondern auch öffentlich als »Schwarze« auftrat – sehr zum Ärger ihrer weißen Eltern. Dass Dolezal ihr Äußeres ihrer angenommenen Identität anpasste, weckte höchst unterschiedliche Reaktionen: Sahen die einen darin einen subversiven Akt zur Überwindung festgeschriebener Rassenidentitäten, verurteilten andere die Selbstinszenierung als verlogene Anmaßung, ja als rassistisches »Blackfacing«.
Der Extremfall macht ein Paradox deutlich sichtbar: Die Identifikation mit einer als unterdrückt oder progressiv wahrgenommenen Minderheit führt manche zu dem Wunsch, dieser Bevölkerungsgruppe nicht nur politisch, sondern physisch anzugehören. Früher wäre dies bloß absurd erschienen, heute nicht mehr. Die aus dem Gehirnfasching der Postmoderne geborene radikalkonstruktivistische Weltanschauung, die keine Wirklichkeit jenseits kultureller und sprachlicher Manipulation mehr kennt, öffnet den Weg für den bestürzend primitiven Wunsch, die eigene Identität wieder in der Quasibiologie zu verankern. So absonderlich die Hochzeit von Konstruktivismus und Essentialismus philosophisch anmuten mag, psychologisch ist sie wohl verständlich: Wer lange vergeblich versucht, auf Luft zu gehen, sehnt sich irgendwann nach Wurzeln.
Hier wie in vielen anderen Fällen dient Identitätstheorie nicht mehr der Dekonstruktion vermeintlich naturgegebener Verhältnisse, sondern fällt in linken Tribalismus zurück. Statt Menschen nach ihren Worten oder Taten zu beurteilen, reden Linksidentitäre unablässig darüber, was Menschen tatsächlich oder vermeintlich »sind«. In immer mehr linken Diskursen sollen Hautfarbe, Geschlechtsneigung oder Alter die Argumente ersetzen. Die gesellschaftlichen Rollen werden der materiellen, historischen Analyse entzogen und zu Eigenschaften verabsolutiert. Wie unangenehm nah sich hier links- und rechtsidentitäres Denken kommen, muss kaum betont werden. Der Kampf gegen »kulturelle Aneignung« ist vom Kampf gegen Völkermischung nur schwer zu unterscheiden. Zusammen mit dem Wunsch, an die Stelle des Proletariats als revolutionäres Subjekt eine plurale Gemeinschaft progressiver Gruppen zu setzen, ergibt sich mancherorts die naive Vorstellung, die Linke sei die natürliche Vertretung der Frauen, der Schwarzen und der Homosexuellen, erst in zweiter Linie womöglich noch die der Vegetarier, Fahrradfahrer und Nichtraucher
Die Rechten, die zur Zeit in mancher Hinsicht leider geschickter agieren als ihre Gegner, haben Spaß daran, in dieser Lage ordentlich Verwirrung zu stiften. Sie wählen einfach eine Lesbe an die Spitze ihrer deutschvölkischen Partei oder schicken einen Schwarzen als Senator ins italienische Parlament. Auch Donald Trump beschäftigt natürlich in seinem Team Schwarze, Hispanics und Juden, die er bei Bedarf vor die Kamera schieben kann, um seine ehrliche Liebe zur Diversität zu beweisen. Solche Winkelzüge lassen all jene ratlos zurück, die eine politische Bewegung nicht auf Überzeugungen und Tätigkeiten, sondern auf Identitäten gründen wollen. Wie modern wirkt verglichen mit solchem Aberglauben im Gewand des Fortschritts die verlachte und abgetane Idee, in der Linken sollten sich alle versammeln, die für die Interessen der Menschen aller Farben und Formen eintreten.
Michael Bittner hat gerade das Buch Der Bürger macht sich Sorgen (Edition Azur) veröffentlicht