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Twitter-Wesen

Mark Fisher
Zeichnung: Leo Leowald

In den sozialen Medien wächst der Einfluss der Konzerne. Was tun?

Von Peter Kusenberg

In einer Folge der Sci-Fi-Fernsehserie »Black Mirror« leben alle Menschen mit Digitalimplantaten und bewerten einander unablässig zum Zweck des gesellschaftlichen Avancements. Bei ihrem Versuch, eine Spitzenwertung zu erreichen, landet die überambitionierte Lacie in der sozialen Isolation. »Black Mirror«, die Bestseller Qualityland von Marc-Uwe Kling und The Circle von Dave Eggers, ferner Videospiele, Filme und tonnenweise Romane thematisieren die totalitäre Entfremdung und Entmenschlichung der digitalisierten Social-Media-Nutzer, und keine Woche vergeht, in der nicht ein Pressebericht erscheint über die krummen Geschäfte der Facebook-Kooperationsfirma Cambridge Analytica, über die Notwendigkeit der EU-Grundverordnung, über die russische Manipulation der US-Wahlen oder das wachsende Google-Imperium. Trotz des schlechten Rufs der sozialen Netzwerke wächst der Einfluss der Social- Media-Firmen stetig, die Aktienkurse steigen, und selbst seriöseste Wissenschaftler packen ihre Twitter-Kennung in die Kontakt- Signatur von E-Mails.

Es gibt nur eine Lösung: »Wenn du ein Mensch sein willst, dann lösch deine Nutzerkonten!« So spricht plakativ der 58jährige Silicon-Valley-Techniker Jaron Lanier. Der »Träger des Deutschen Buchpreises 2014«, wie ihn der Verlag bewirbt, schreibt in seinem aktuellen Büchlein Zehn Gründe, warum du deine Social-Media-Accounts sofort löschen musst, dass sich »der Mensch von den Verhaltensmodifikationsimperien befreien« müsse, zu denen er Twitter, Google und Facebook sowie Tochterdienste à la Whatsapp und Instagram zählt. Denn »die Informationen, die bei den Leuten ankommen, sind das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen manipulativen Werbetreibenden und machtbesoffenen Technologiekonzernen, die irrsinnige, konstruierte Wettbewerbe um sozialen Status fabrizieren«, was zu suchtförmigem Verhalten führt, zu Kritikunfähigkeit, zu schwindender Empathie, zu Beurteilungsdruck; die Social-Media-Verhaltensmanipulation würde Genussunfähigkeit, die Empfänglichkeit für rohe Lügen, das Konzept der Optimierung als Lebenszweck sowie regelrechtes »Arschlochtum « befördern.-

Auf gesellschaftlicher Ebene begünstigte die Facebookisierung den Extremismus, denn nur die extreme Sicht auf die Dinge würde noch Gehör im ständigen Social-Media-Getöse finden. Facebook, Twitter und Google befeuerten außerdem die Gig-Ökonomie, also die arbeitsrechtlich freie Selbstausbeutung via vermeintlich nötiger Social- Media-Dienste als Mittler; sie würden das Entstehen von »Bullshitjobs «, wie der Anthropologe David Graeber die Beschäftigungen von Investmentbankern und Suchmaschinenoptimierern nennt, befeuern; Facebook und Google entwerteten Facharbeit, denn die Übersetzungsprogramme, gespeist aus dem Input der Übersetzer, machen die Übersetzer vermeintlich überflüssig; so wie die Krankenschwestern, die »Lohneinbußen hinnehmen müssen, weil sie mit Robot- Krankenschwestern konkurrieren müssen«, für deren Installation die echten Krankenschwestern die Daten lieferten.---- Lanier verabscheut das propagandistische Gequake über Künstliche Intelligenz, die keine Intelligenz ist, sondern die Stimme kollektiver Blödheit. In einem der wenigen anschaulichen Beispiele des Buches zeigt Lanier, wie Facebook dazu beiträgt, dass »einstmals besiegte Kinderkrankheiten wieder aufleben«, indem »gebildete Menschen aus der oberen Mittelschicht« Impfungen in Frage stellen, was mithin das Konzept von »Bildung« ad absurdum führe. Er plädiert für ein moralisches Bewusstsein und tadelt »allgegenwärtige Überwachung und subtile Manipulation«, da sie »unmoralisch, grausam, gefährlich und unmenschlich« sei.

An dieser Stelle rekapituliert der Autor die Gedankengänge der Internetpioniere, die sich einst für den privatwirtschaftlichen Betrieb der Online-Dienste einsetzten, was dazu führte, dass man heutzutage »die Verbindung zwischen zwei Menschen nur durch einen Dritten finanzieren kann, der dafür bezahlt, beide zu manipulieren« – statt dass das Internet staatlich reglementiert wird und als Bezahldienst die Manipulation zumindest durchschaubar macht.

Im Hinblick auf die Verteilung der Software-Produktionsmittel klafft eine Lücke in der Argumentation Laniers, die so breit ist wie die San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien. Denn der Hippie Lanier vermeidet es, die eigentliche Systemfrage zu stellen. Bei ihm taucht das böse Wort »Kapitalismus« nur einmal auf: »Der Kapitalismus sollte kein Nullsummenspiel sein«, womit er meint, dass im guten Kapitalismus die Kunden etwas Handfestes bekämen, etwa Zugang zu einer Social-Media-Software, wofür sie dann mit Geld bezahlen würden statt mit ihren Daten.

So gesehen machen Apple, Amazon und Microsoft ganz guten Kapitalismus: Der I-Phone- Hersteller mit 40-Prozent-Rendite, der notorische Lohndumper und Gewerkschaftshasser sowie, vor allem, der monopolistische Abgreiferkonzern und kurzsichtige Technik-Stümper Microsoft seien die Rettung aus dem Dilemma, das Lanier für vermeidbar hält. Wundern wird’s keinen, denn Lanier arbeitet in leitender Position bei Microsoft, deren »Accounts« niemand kündigen möge, obwohl Lanier doch weiß, dass Microsoft 2013 den Dienst Xbox-Live auf der Xbox-One als vulgär-totalitäre Werbe- und-Überwachungsmaschine mit permanent eingeschalteter Kamera und eingeschaltetem Mikro im Wohnzimmer plante und einzig wegen der Proteste der Spielerschaft zum konventionellen Manipulationsgeschäft wechselte.

Laniers liberales Mantra von der »Chancengleichheit« funktioniert gerade in der Microsoft-Welt nicht, in der einst die Windows- Lizenz einen halben Hilfsarbeitermonatslohn kostete und der damalige Monopolist die größten Schurkereien durchsetzte, inklusive Verstößen gegen tonnenweise EU-Richtlinien.

Im Hinblick auf Facebook und die anderen Social-Media-Unternehmen indes hat Lanier recht, denn die »beherrschen die Aufmerksamkeit so vieler Menschen über einen so großen Teil des Tages, dass sie zum Torwächter des Gehirns geworden sind« und einem »metaphysischen Imperialismus« den Weg bereitet haben. Dass die Warnung allerdings Gehör finden wird, steht zu bezweifeln. Auf dem Buchumschlag wird die Schriftstellerin Zadie Smith zitiert: »Ein unglaublich gutes, dringendes und wichtiges Buch«. Und jetzt dürfen Sie raten, wer Monate nach der Lektüre dieses Buch weiterhin bei Twitter, Facebook und Instagram anpreist

Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social-Media-Accounts sofort löschen musst. Hoffmann und Campe, Hamburg 2018, 208 Seiten, 14 Euro

 

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