Über Rolf Tiedemanns Kritik des Vergessens. Ein Nachruf auf den Soziologen, Philosophen und Adorno-Archivar.
Von Ansgar Martins
Eine Aporie, erläuterte Rolf Tiedemann 1990 anlässlich einer Ausstellungseröffnung in Marbach, sei »die Unmöglichkeit, aus den Verschlingungen eines Problems, in das man sich verfangen hat, einen Ausweg zu finden. Anstatt diesen mit Gewalt zu erzwingen, tut man in der Regel besser daran, über die Schwierigkeiten möglichst genau sich Rechenschaft zu geben.« Eine reale, historische Aporie sei das »Prinzip Museum«. Schon der »Begriff des Archivierens« spiegele eine falsche »Historisierung« und Neutralisierung des Gewesenen wider.
Gegen die Verdrängung des Vergangenen, so Tiedemann weiter, sei aber der Gang ins Archiv unvermeidlich. Entscheidend sei weniger, wie Historisches in der Gegenwart erscheint, sondern vielmehr, wie die Gegenwart sich angesichts verpasster Möglichkeiten darstellt. »In den Museen und Archiven mag man paradoxerweise noch am ehesten jenes utopische Potential wiederfinden, das in der Realität verloren zu sein scheint. Was anders wäre und was noch niemals war, ist am Ende nur noch in der Erinnerung an diejenigen gegenwärtig, die in den Dokumenten ihres Bruchs mit der bürgerlichen Kultur dieser doch auch zum Bewusstsein verhelfen könnten.«
In der Marbacher Rede reflektierte Tiedemann auch die eigene Rolle als Archivar. Er war Herausgeber der bis heute maßgeblichen Werkausgaben Walter Benjamins und Theodor W. Adornos, leitete bis 2002 das Frankfurter Adorno-Archiv und publizierte danach weiter zur Kritischen Theorie. Seit seinem Studium hatte er sich mit Problemen der Philologie beschäftigt. Zu seinen größten Leistungen gehört die Rekonstruktion der unabgeschlossenen letzten Werke Benjamins und Adornos, des Passagenwerks, der Ästhetischen Theorie und der Beethoven-Fragmente.
Als Tiedemann 1958 mit der Arbeit an seiner Dissertation, der ersten umfassenden Darstellung von Benjamins Philosophie, begann, bezeichnete sein Doktorvater Adorno ihn in einem Brief an Gershom Scholem als einen seiner begabtesten Studenten. Tiedemann entzog sich weitgehend dem akademischen Betrieb, er blieb fast unsichtbar hinter Editionsarbeit und kommentierenden Monografien. Schon zur Frankfurter Adorno-Konferenz 1983 wurden ohnehin, »um den nötigen Abstand zu gewährleisten, keine unmittelbaren Adorno-Schüler« mehr »geladen«. Die trafen sich auf dem Hamburger Adorno-Symposium 1984. Hier wiederum musste Tiedemann seine Arbeit gegen »einen gewissen linken Verbalradikalismus« verteidigen, demzufolge die philologische Befassung mit dem Gesellschaftskritiker Adorno nichts als »unzeitgemäße und unerlaubte Fragestellungen« hervorbringe. Dabei reflektierte gerade Tiedemann, wie die eingangs zitierte Marbacher Rede zeigt, das Problem der Historisierung Kritischer Theorie sehr genau.
In Hamburg führte er aus: »Utopie ist für Adorno und vielleicht stets die erotische … Widerpart der herrschenden Arbeitsmoral und deshalb verdrängt.« Eros und Erkenntnis vermählen sich nach Adorno »in der ästhetischen Verhaltensweise«, durch die Strenge des Objektbezugs, die auch Tiedemanns Arbeit auszeichnet.
Den »innersten Impuls« von Adornos Philosophie charakterisierte sein Schüler 1984 als »Solidarität mit dem Verlorenen, Einspruch wider die Vergängnis, ein mit dem Tod sich nicht Abfinden«. Das Faktum des Sterbens als unvermeidlich zu akzeptieren machte sich in Adornos, Benjamins und
Tiedemanns Augen als Utopielosigkeit verdächtig. Versuche, Adorno um solche unhaltbaren Utopien zu bereinigen und auf »das Interessante« zu reduzieren, kritisierte Tiedemann scharf. »Die Welt, wie sie ist, gegen den ›Prunk‹, das Versprechen von Überfluss ausspielen, läuft allemal auf die Sabotage des Möglichen hinaus«, einen »Dezisionismus zur Dummheit, der masochistisch im ›Wenigen‹ sich einnistet«.
Tiedemanns Gegenentwurf zum Sich-Einnisten kann man im »Begriff des Überwinterns« finden, den er zu Beginn seines letzten Buchs anführt. Abenteuer anschauender Vernunft handelt von Goethes Erkenntnisutopie und beginnt unbeirrt mit der Aporie von Praxis. »Unmittelbares Tun, die prometheische Tätigkeit«, komme nicht in Frage, sondern habe vielmehr die gegenwärtige »Welt der Verwüstungen und Katastrophen heraufgeführt«. Diese Lage zwinge dazu, die Gedanken »Schutz bei Texten« suchen zu lassen, »um an ihr möglichst wenig teilzuhaben«.
Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Hannover erschien 2006 unter dem aufschlussreichen Titel Philologie und Scham ein schmaler Band mit Texten »von, über und für« Tiedemann. Der deutet darin mit Benjamin die Scham, die Josef. K. überlebt, als Kafkas »vornehmste Gebärde«: »Scham nicht vor den anderen, sondern für sie.« Gegen die »Schamlosigkeit der Kulturindustrie« werde durch solche Scham »im individuellen Affekt stellvertretend die öffentliche Tugend wiederhergestellt«. In der Scham ginge demnach dem einzelnen die Idee eines vernünftigen Allgemeinen auf, wenn und sofern er die allgemeine Unvernunft nicht verinnerlicht, sondern sich gegen sie sträubt. Ähnlich der Verbindung von Utopie und Eros, die Tiedemann gezogen hat, meint der hier verwendete Begriff von Scham eine Versöhnung von Vernunft und Affekt. So zeichnete er im »Schutz von Texten« Erinnerungen an eine Kultur auf, die »anders wäre und noch niemals war«.
Tiedemanns Gang ins Archiv war ein Versuch, der Gedenkkulturindustrie nach 1945 eine Praxis unversöhnlich kritischen Erinnerns entgegenzustellen. In der Marbacher Rede charakterisiert er das Ziel dieser Arbeit als Reeducation: »Jene von Erinnerung endgültig entlastete Menschheit, deren Drohung seit Eichmann und Mengele über uns steht, ist konkret absehbar geworden.« Kultur nach Auschwitz möge zwar – so Adornos Einsicht – »Müll« sein, aber »zugleich ist sie das kollektive Gedächtnis der Menschen, ihr letztes Refugium vor dem Vergessen«. Am 29. Juli ist Tiedemann im Alter von 85 Jahren gestorben.
Rolf Tiedemann: Mystik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Edition Text + Kritik, München 2002, 315 Seiten, 32 Euro
Ders.: Abenteuer anschauender Vernunft. Essay über die Philosophie Goethes. Edition Text + Kritik, München 2014, 231 Seiten, 30 Euro
Ansgar Martins hat gerade zusammen mit Grazyna Jurewicz und Dirk Braunstein den Band »Der Schein des Lichts, der ins Gefängnis selber fällt«. Religion, Metaphysik, Kritische Theorie (Neofelis) herausgegeben