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Die »FAZ« gibt ein perfides Beispiel der deutschen Rezeption des Dichters Paul Celan.

Von Wolfgang Schneider

Am 18. August hat die »FAZ« in ihrer »Frankfurter Anthologie« das Gedicht »Er« des jüdischen Dichters Immanuel Weißglas veröffentlicht, eines Schulfreunds von Paul Antschel (später: Paul Celan) aus dem damals rumänischen Czernowitz. Beide überlebten sie, anders als Celans Eltern, die Bemühungen der Deutschen 1941 ff., alle Juden in ihrem Machtbereich zu ermorden.

Kommentiert wird Weißglas’ Gedicht von Hans Christoph Buch:
… manche dieser Verse kehren wortwörtlich wieder in Paul Celans »Todesfuge«, dem wohl berühmtesten Text der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur: vom Grab in den Lüften bis zum Tod als Meister aus Deutschland … und das Paradox liegt darin, dass nicht Immanuel Weißglas das Gedicht von Paul Celan paraphrasiert, sondern umgekehrt. Und es scheint keineswegs abwegig, dass Celans Entschluss zum Freitod im April 1970 beeinflusst worden sein könnte durch die Konfrontation mit dem 1947 entstandenen, 1970 erstmals gedruckten Gedicht seines gleichaltrigen Freundes … Celan war dünnhäutig und neigte wie viele Holocaust-Überlebende zu Depressionen.

Das ist so phantasievoll wie perfide. Weder ist 1947 als Entstehungsjahr für Weißglas’ Gedicht belegt – der Erstdruck von 1970 gibt, wohl mit Blick auf die »Todesfuge«, die nach Celans Angaben »im Mai 1945« geschrieben wurde und die Anfang Mai 1947 in einer rumänischen Übertragung erstmals veröffentlicht worden ist, »1944« an – noch ist die nonchalante Kennzeichnung Celans als »dünnhäutig« und, ganz der Holocaust-Überlebende, zu Depressionen »neigend« anderes als eine Rohheit. Dem Kommentar der soeben bei Suhrkamp erschienenen neuen Gesamtausgabe der Gedichte Celans, der den gegenwärtigen Wissensstand festhält, lässt sich entnehmen: »Eine Entstehung des Gedichts (›Todesfuge‹) vor PCs Ausreise nach Bukarest im April 1945 ist zumindest wahrscheinlich … Jeglicher Beweis fehlt dafür, dass das kurz vor PCs Tod erstmals publizierte Gedicht ›Er‹ seines Czernowitzer Alterskollegen Immanuel Weißglas … früher als diese entstanden ist.«

Wie also kommt Buch auf seine wie selbstverständliche Behauptung? Durch die bestenfalls unreflektierte Fortschreibung jener deutschen Celan-Rezeption, die den jüdischen Dichter seit Mitte der fünfziger Jahre immer wieder des Plagiats bezichtigt und als unschöpferisch, als literarischen Parasiten verzeichnet hat. Natürlich tut Buch solches nicht. Er renoviert lediglich ein antisemitisch grundiertes Verdikt und streicht es in einem freundlichen Farbton.

Wolfgang Schneider

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