Literatur Konkret Nr. 11
1986/87
Günter Wallraff ist der Held des Jahres, der Märtyrer der Nation, die kollektive Identifikationsfigur. Der »größte Bucherfolg der Welt« führte zu hymnischen Elogen auf die Aktion, die Kampagne, den Kreuzzug. Der falsche Ali wurde beklatscht, befragt und bestaunt. Nur für die echten Türken interessierte sich niemand. Über sie wußte man Bescheid, denn Wallraff hatte geschildert, »wie ein Leiharbeiter - und Türke dazu - fühlt, wie er denkt und leidet« (»Die Zeit«). In keiner der zig Fernseh- und Rundfunksendungen, in keinem der unzähligen Interviews und Berichte wurde auch nur einem Türken die Frage gestellt, ob er sich und seine Landsleute zutreffend dargestellt sieht. Wichtigstes Thema war, ob Wallraff abgeschrieben, plagiiert, wie er sich gefühlt und die Strapazen ausgehalten habe. Die Türken blieben - wie im Buch - Staffage und wurden günstigenfalls Objekte des Mitleids. In LITERATUR KONKRET schreibt die türkische Schriftstellerin Aysel Özakin, daß sie sich auf dem Höhepunkt der Werbung für »Ganz unten« nach Holland gerettet habe, weil ihr das »mürrische, traurige, schmutzige Gesicht« auf den Plakaten Alpträume verursachte. Im September dieses Jahres verkündete Wallraff ebenfalls seinen Umzug nach Holland. Auch er hat »nur noch miese Träume«. Rolf Niemeyer berichtet über die Aufnahme des Bestsellers in der Türkei und Bernhard Schneidewind analysiert unser Verhältnis zu Ausländern.
Nicht alle selbsternannten Genies, Dichter, Lyriker und Vielschreiber können auf den richtigen Weg gebracht werden. Aber einer bekommt dieses Jahr eine Chance: Er erhält den mit 30.000 Mark dotierten Karl-Kraus Preis, den der Konkret Verlag zum ersten Mal vergibt. Die Preisrede hält Hermann L. Gremliza.