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Literatur Konkret Nr. 2

Frühjahr 1978

Utopie als Aufforderung  
Editorial
 
Als wir den Titel dieses Heftes fotografierten, saß in einer Ecke der Werkstatt ein Schweißer und las während der Frühstückspause Novellen. Seine Kleidung entsprach jedoch nicht den Anforderungen eines Farbtitels, wir mußten daher die Aufnahme stellen. Somit ist unser Titelbild realistisch und utopisch zugleich, indem es das zugegeben Außergewöhnliche zur wünschenswerten Normalität erhöht.
 
Noch sind Arbeiter im Umgang mit Literatur ähnlich hilflos wie der Redakteur eines Literaturmagazins im Gebrauch von Werkzeugen. Noch lesen kaum Arbeiter Literatur und erst recht nicht konkrete, noch enthält diese Zeitschrift keinen einzigen Beitrag eines Handarbeiters. Dennoch wurde Literatur Konkret ignoriert von den Kulturverwaltern in den Medien, und das ist nicht einmal verwunderlich.  
 
Seit dem Erscheinen unserer ersten Ausgabe hat z. B. DIE ZEIT folgende neue Literaturzeitschriften ihren Lesern angekündigt: 'Aqua Regia', 'Siope', 'Cimarron', 'Literatur für Leser', 'Sprache und Datenverarbeitung'. Die Druckauflage all dieser Zeitschriften zusammengerechnet beträgt nur einen Bruchteil der verkauften Auflage von Literatur Konkret. Sollte ein unzureichendes Niveau unserer Zeitschrift die Damen und Herren in den öffentlichen und privaten Anstalten veranlaßt haben, rücksichtsvoll zu schweigen? Sollten sie aus Pietät darauf verzichtet haben, ein linkes Magazin zu kritisieren? Wohl kaum.  
 
Ihr Schweigen hat andere Ursachen. Wahrscheinlich sind es die gleichen, die ungezählte begeisterte Briefe und Anrufe von Lesern auslösten. Ich vermute, es ist die unscheinbare Radikalität dieser Zeitschrift, die sie so schwer berechenbar, klassifizierbar macht für jene, die für das Berechnen, Klassifizieren zuständig sind in den Redaktionen.  
Wir haben mit Literatur Konkret die Spielregeln verletzt, indem wir nicht nur über Kunst, Geist, Gefühle sprachen, sondern auch Geld und Umsatzzahlen und Mechanismen des Betriebes erwähnten. Derartiges berührt manchen unangenehm, läßt Solidarität in der Abwehr entstehen auch bei denen, die Fremdwörter sehr wohl, nur eben dieses nicht kennen.  
 
Doch ihre Herrschaft über den Literaturbetrieb ist nicht unüberwindbar dort, wo sie unzeitgemäß geworden ist und die Bedürfnisse vieler Menschen nicht mehr befriedigt. Kulturgenuß als Selbstzweck, die Faszination des Mitredenkönnens, die Heimeligkeit des Erbaulichen, das alles interessiert nicht mehr sonderlich jene, die mittels Kultur verändern statt verdrängen wollen. Der Wert künftiger Literaturen wird sich allein daran messen, wie weit sie zur verändernden Bewältigung der Wirklichkeit beitragen. Dieses wesentliche Kriterium unserer Literaturkritik haben wir nicht verheimlicht.  
 
Volksfrontscheiße nannte das ein bekannter linker Verleger. Ganz abgesehen davon, daß wir, um mit Walter Jens zu reden, lieber »in der Front des Volkes als im Arsch der Reaktion« tätig sind, bedeutet diese Haltung nicht einen Triumph der Ratgeberliteratur, der dümmlichen Vordergründigkeit. Die Wirklichkeit ist komplex, ebenso muß es ihre Beschreibung, Analyse, Verarbeitung sein. Hier hat Kunst ihre Funktion.  
 
Wir haben weiter an der Konzeption für Literatur Konkret gearbeitet und vielleicht einen winzigen Schritt in die Zukunft getan. Entscheidend aber wird sein, ob -und auch das ist wiederum Utopie - einmal die unselige Trennung von Schreibern und Lesern aufgehoben werden kann.  
 
Voluntarismus hilft da nichts. Kein Beschluß irgendeines Zentralkomitees kann bewirken, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen Leser etwas anderes schreiben als schlechte (da unvollkommene) Imitationen des Gelesenen. Die Qualitätskriterien der 'Hohen Literatur', unsere Vorstellungen von Wert und Bedeutsamkeit, verhindern deren ungeübte Mitgestaltung. Dennoch haben alle Menschen unvorstellbar viel zu berichten und nicht nur nachgeplappert Unwesentliches. Kaum jemand hört ihnen zu, außerdem wurde ihnen schon früh beigebracht, das Maul zu halten und den Berufenen das Erzählen zu überlassen.  
 
Utopien sind Aufforderungen. Eines Tages wird auch im Kulturbereich diese herrschaftsbildende Form der Arbeitsteilung überwunden werden müssen. Literatur Konkret will dazu beitragen. Leser und Schreiber sind aufgefordert, sich daran zu beteiligen. 

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