Paul Verhaeghe: Autorität und Verantwortung. Aus dem Niederländischen von Claudia Van Den Block. Kunstmann, München 2016, 320 Seiten, 24 Euro
Der Schüler hat keinen Bock. Er will nicht lernen, die Zukunft ist ihm egal, nichts interessiert ihn. Was ist da nur schiefgelaufen? Offensichtlich, schreibt Paul Verhaeghe sarkastisch, hat der Lehrer versagt. »Er schafft es nicht, das Kind zu motivieren. Motivation ist etwas Geheimnisvolles, etwas, worüber ein Schüler offenbar in mehr oder weniger großem Maße verfügt… Die Klasse wird zur Arena, in der ein kritisches Kinderpublikum laut den studierten Stand-up-Comedian kommentiert, der mit seiner Multimediashow krampfhaft versucht, ein wenig Interesse zu wecken.« Die Anforderungen sinken, aber auch »Applaus-Pädagogik« bringt nicht den erwünschten Erfolg. Schließlich zieht man den Psychologen zu Rate, »als heimliche Disziplinierungsmaßnahme«, beziehungsweise um eine passende Störung zu ermitteln, »die als deus ex machina erklärt, warum die Schulleistungen nicht den Erwartungen entsprechen«.
Der Autor von Autorität und Verantwortung hat viele Jahre als Psychologe in Schulen und in der Jugendhilfe gearbeitet, sein Sarkasmus mag daher rühren. Die pädagogische Praxis, die er beschreibt, entspricht der Auffassung Rousseaus, derzufolge das Kind »von sich aus«, im »Naturzustand«, makellos ist und durch gesellschaftliche Formung nur schlechter werden kann. Die Lerninhalte sollen von sich aus Interesse wecken – sie müssen es sogar, weil Disziplin und Disziplinierung verpönt sind. Die Vorstellung, Sozialisation müsse geplant und zielgerichtet durchgeführt werden, wirkt entsprechend abwegig, als Übergriff in die Freiheit der Kinder und Eltern. Weil auf dieser Grundlage Lernen nicht funktioniert, bleibt als Ausweg nur die Pathologisierung des Zöglings. Der pädagogische Liberalismus geht aus vom »Der Mensch ist gut!« und kommt an beim »Der Mensch ist psychisch gestört!«.
Der belgische Autor ist ein renommierter Psychoanalytiker, der auch außerhalb seines Fachgebiets veröffentlicht. Autorität und Verantwortung ist ein populäres Sachbuch mit einer genretypisch schlichten Grundthese: Die patriarchalen Autoritäten sind entthront, aber nichts ist an ihre Stelle getreten, um die entstandene Lücke zu füllen. Der Liberalismus hat auf ganzer Linie gesiegt, einschließlich seines linken Flügels, der völlig anachronistisch antiautoritäre Kämpfe führen will, obwohl es keine ernstzunehmenden Gegner mehr gibt. Verhaeghes Diagnose trifft wohl zu – eine Krankheitsgeschichte oder auch brauchbare Therapievorschläge finden sich in diesem Buch allerdings nicht.
Matthias Becker