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»Autistische Automaten«

Edith Sheffer: Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im »Dritten Reich«. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Campus, Frankfurt a. M. 2018, 340 Seiten, 29,95 Euro

»Du bist wohl Asperger!« Diese Zuschreibung für verschrobene, aber irgendwie geniale Soziopathen ist in den Alltagssprachgebrauch eingegangen. Die britische Psychiaterin Lorna Wing hatte 1981 eine Habilitationsschrift von 1944 entdeckt und die darin beschriebene Störung nach ihrem Verfasser als Asperger-Syndrom bekannt gemacht, ohne den historischen Kontext zu erwähnen. Später bereute sie dies. Als offizielle Diagnose wird Asperger seit 2013, zumindest in den USA, nicht mehr verwendet. Stattdessen fasst die American Psychiatric Association unter Autismus-Spektrum-Störung verschiedene Ausprägungen der Krankheit zusammen. Aktuell ist sie in der Berichterstattung über Greta Thunberg in aller Munde (siehe S. 2/3).

Was verbirgt sich hinter dieser Diagnose? Wer war der Namensgeber? Diesen Fragen geht Edith Sheffer, Historikerin an der University of California in Berkeley und Mutter eines als autistisch diagnostizierten Sohnes, nach. Sie setzt drei Schwerpunkte: die Genese der Kinderpsychiatrie im sozialdemokratisch geprägten »roten Wien« nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Übernahme durch die deutschen Faschisten 1938, die Biografie des österreichischen Kinderpsychiaters Hans Asperger und seine Anpassung an das Nazi-Regime und die Fragwürdigkeit der Erkrankung und ihrer Etikettierung selbst. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass Asperger als Diagnose nicht mehr verwendet werden dürfe.

Ihre These: Die Beschreibung des Autismus in Aspergers Schrift »Die ›autistischen Psychopathen‹ im Kindesalter« ist in der NS-Ideologie und Rassenpolitik verankert. Er hat den Begriff Autismus, mit dem der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler zuerst Schizophrene gekennzeichnet hatte, 1938 als eigene Diagnose eingeführt. Nachdem er zunächst als Mitarbeiter der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik Wien die Einzigartigkeit und das Potential seiner (autistischen) Patienten betont hatte, verengte und radikalisierte er nach dem »Anschluss« Österreichs seine Sichtweise: Ob eine Behandlung sich lohnte, hing ausschließlich von der Nützlichkeit für die »Volksgemeinschaft« ab; als »unbrauchbar« geltenden Kindern sprach er als »autistischen Automaten« oder »automatenhaften Schwachsinnigen« die Menschlichkeit ab.

Asperger profitierte von der Entlassung jüdischer Kollegen, orientierte sich an seinem Chef, dem Nazi Franz Hamburger, und lernte bei dem Eugeniker und Antisemiten Paul Schröder in Leipzig und dessen Schülern, den T4-Gutachtern Hans Heinze und Werner Villinger. Er kooperierte mit den Kindertötungsärzten Erwin Jekelius, Heinrich Gross und Ernst Illing Am Spiegelgrund, der »Kinderfachabteilung« der zweitgrößten Krankenmordanstalt im Reich: Am Steinhof in Wien. Mindestens 44 Kinder schickte Asperger dorthin, so Sheffer, obwohl er wusste, dass man sie dort ermorden würde. Zum Beispiel die fünfjährige Elisabeth Schreiber, die nur das Wort »Mama« sagen konnte und ihre Mörder umarmte, bevor sie die tödliche Spritze erhielt. Zuvor wurde sie, wie viele andere, misshandelt, gefoltert und für medizinische Experimente missbraucht. Mindestens 789 Kinder wurden Am Spiegelgrund getötet.

Sheffer kennzeichnet Asperger als karrierebewussten Opportunisten, dessen Verhalten exemplarisch sei für das »Abdriften in die Mittäterschaft«. Nach dem Krieg stilisierte er sich als (katholisch geprägten) Regimegegner und galt sogar als aktiver Widerständler, der Kinder vor dem »Euthanasie«-Tod gerettet hätte.

Das an manchen Stellen ungenaue Buch bietet außer einer aufschlussreichen Analyse der unterschiedlichen Bewertung abweichenden Verhaltens von Mädchen und Jungen (bis heute gilt Autismus als eher männliches Phänomen) nichts Neues, fußt es doch auf den differenzierteren, quellenbasierten Studien des österreichischen Medizinhistorikers Herwig Czech. Dafür könnte Aspergers Kinder ein größeres Publikum erreichen.

Sabine Lueken

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