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Ins Schwarze Loch

Gewinnt das Werk Christa Wolfs dadurch, daß man es nicht liest? von Rayk Wieland

Die moderne Physik ist zur Zeit sehr mit dem sogenannten Informationsparadox beschäftigt. Es besagt, daß eine Information, wenn sie in ein Schwarzes Loch gerät, nach allem, was über diese Löcher bekannt ist, die überall im Universum stationiert sind, verschwinden müßte - einerseits. Andrerseits kann sich die Information, wenn sie die Grundlagen der Physik zur Kenntnis nimmt, nicht einfach in "Luft" auflösen, sondern muß irgendwo bleiben. Das Informationsparadox zählt zu den unterhaltsamen Paradoxen. Physiker, wenn sie darüber streiten, greifen gern zu kuriosen Vergleichen. Oft ist von einer Aktentasche die Rede, die jemand mutwillig durchs All schleudert, bis sie dann in einem Schwarzen Loch landet. Über den weiteren Verbleib der Aktentasche wird heftig gestritten. Erst kürzlich hat Stephen Hawking in einer Wette eine Baseball-Enzyklopädie verloren, da seine Behauptung, man könne die Aktentasche vergessen, sie sei weg, sich als unhaltbar erwies.

Ohne die moderne Physik zusätzlich in Verlegenheit bringen zu wollen - was wäre, wenn man der durchs All trudelnden Aktentasche das Werk der Schriftstellerin Christa Wolf beigäbe? Bekanntlich enthält es keinerlei Informationen oder nur welche der Art, die auch das toleranteste Schwarze Loch ablehnt. Was passiert mit der Aktentasche? Was passiert mit dem Schwarzen Loch? Wird ihm vielleicht mulmig zumute? Verweigert es die Annahme? Oder entsteht durch die Konfrontation von nichts mit nichts am Ende doch noch etwas? Anders gefragt: Gewinnt das Werk Christa Wolfs vielleicht dadurch, daß man es nicht liest?

Die Frage stellen, heißt, sie bejahen. Christa Wolfs eingeschweißte Bücher sind ihre besten. In manchen älteren Haushalten gibt es noch Feiertagszimmer, die nur, wenn Besuch kommt, betreten werden dürfen, und dort steht oft ein verschlossener Bücherschrank, hinter dessen Glasfront eine ganze Batterie im Preis herabgesetzter, original verpackter Schwarten hartnäckig der Nichtlektüre harrt. Man weiß nicht, wer mehr zu beglückwünschen ist: die Leute, weil sie den Schund nicht anfassen, oder die unschuldigen Bücher, die keine Angst haben müssen, von einem rohen Gemüt defloriert zu werden. Oder das Schwarze Loch, das eines Tages, wenn es dieses Arrangement zu vertilgen hat, als lachender Dritter dasteht?

Schwarze Löcher sind mittlerweile zahlreich wie nie. Es gibt sie in Kassen, in der Erinnerung und in Socken*. Auf Röntgenbildern tauchen sie auf. Sie befinden sich am Eingang von Tunneln und in der Mündung von Waffen. Der Fernseher: ein Schwarzes Loch, das alle Energie der Umgebung restlos verschlingt, wohingegen die originalen Schwarzen Löcher im All eher als Staubsauger deklariert werden. Das großartigste Schwarze Loch aber, das erschreckendste und zugleich beschaulichste, ist das Grab. Der Friedhof: eine kleine Galaxie vermurksten, zum Teil auch abgemurksten Lebens. Im Grunde braucht, wer sich für Astronomie interessiert, kein protziges Hubble-Teleskop, sondern nur einen Platz auf der Rasenbank am Elterngrab.

Was Stephen Hawking in Bezug auf die Aktentasche inzwischen eingesehen hat, weiß Christa Wolf schon lange: Wer schreibt, der bleibt. Dabei ist es egal, welche Sorte Text fabriziert wird. Wolfs letztes Buch Ein Tag im Jahr. 1960-2000 versammelt die Chronologie jeweils eines einzigen Tages, nämlich des 27. Septembers, im Verlauf von 40 Jahren. Die Idee ist nicht schlecht und stammt auch nicht von ihr, sondern von Maxim Gorki, der 1935 dazu aufgerufen hatte, einen "Tag der Welt" zu dokumentieren. Christa Wolf machte daraus einen Tag der Christa Wolf, und zwar vierzigmal hintereinander. "Schreiben als Widerstand gegen den unaufhaltsamen Verlust von Dasein" steht als Motto auf der Rückseite des Buches. Man sieht das Schwarze Loch schon förmlich kollabieren.**

Die Versuchung, das Buch nicht aus seiner Schutzhülle zu nehmen und aufzuschlagen, ist unendlich groß. Wer ihr sonstiges Werk kennt, wird es nicht als stürmisch bezeichnen wollen, obwohl windig oder aufgeblasen eine zu schwache Charakterisierung wäre. Im Gegensatz zum Schwarzen Loch mangelt es ihm an Witz und Geheimnis, doch eine gewisse Anziehungskraft ist vorhanden. Es hat hohe Auflagen und Fans in allen Altergruppen, die Christa Wolf muttihaft verehren. Der Grund dafür liegt in ihrer semiliterarischen Passion der Aufrichtigkeit. Christa Wolf denkt, was sie denkt, fühlt, was sie fühlt, bezweifelt, was sie bezweifelt, und ist sogar verunsichert, wenn sie verunsichert ist, und das ist sie oft und ausgiebig. Die Trivialliteratur transformiert das Leben eins zu eins in den Text, Christa Wolf bevorzugt ein Verhältnis von eins zu 40. Die Poetik, auf der ihr Schreiben fußt, ist die Vorwegnahme der Warteschleife mit anderen Mitteln, will heißen, sie verzichtet völlig auf den Trost der Serialität und läßt sich immer etwas Neues einfallen, um zu langweilen. Sie will das Leben verlängern, nicht verkürzen, sie will nicht die Zeit totschlagen, sondern von der Zeit erschlagen werden. Wer das Gefühl hat, sein Leben rast wie verrückt dahin, kann mit Christa Wolfs Büchern die Notbremse ziehen und zusehen, wie es sich augenblicklich in einen zähen, nicht von der Stelle kommenden, uninspirierten Brei verwandelt.

Häuser haben Türen, Wohnungen Fenster, die man schließen kann, um Belästigungen zu vermeiden. Durch die Straße gehen zu können und von dem öden Terror, der hinter all den Wänden zu Hause ist, verschont zu bleiben, ist vielleicht der maximale Vorzug, den das Leben heute bietet. Leider verfügt das Tagebuch Christa Wolfs über derartige Schutzvorkehrungen nicht, und so ist es einfach eine Frage der Höflichkeit und des Respekts, es ungelesen zu lassen - und, noch sicher eingeschweißt, in Stephen Hawkings Aktentasche zu legen.***

* Schwarzen Socken, versteht sich. Wobei dort ja nichts verschwindet, sondern eher was zum Vorschein kommt.

** Einige Astrophysiker sind der Ansicht, daß die Aktentasche nach ihrem Eintreffen im Schwarzen Loch sofort in ein Paralleluniversum weitergeleitet wird. Das Paralleluniversum muß man sich als einen Nachbarn vorstellen, der nie zu Hause zu sein scheint oder nur dann, wenn man selber gerade abwesend ist. Wie in einem Fernsehschwank aus den Siebzigern: Ständig gehen die Türen auf und zu, und man verpaßt und verfehlt sich idiotischerweise immer. Plötzlich steht dort also, wie aus dem Nichts, eine Aktentasche im Raum, angefüllt mit dem Werk von Christa Wolf. Die Leute vom Paralleluniversum werden sich freuen!

*** Während die Aktentasche ziellos durchs Weltall bollert, sei verraten, daß doch ein, wenn auch nur extrem kurzer, flüchtiger Kontrollblick ins Buch geworfen wurde. Die ersten Sätze der Einleitung lauten: "Wie kommt Leben zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt. Ist Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätselhaft vergehenden Zeit?" Usw. Ts, ts. Es wäre nicht verwunderlich, wenn das Paralleluniversum sich seinerseits mit einer eigenen Aktentasche revanchierte, enthaltend womöglich das Werk eines gewissen "Günter Grass". - Wie? Was? Ist schon eingetroffen?

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. Luchterhand, München 2003, 640 Seiten, 25 Euro

Peter Böthig: Christa Wolf. Eine Biographie in Bildern und Texten. Luchterhand, München 2004, 216 Seiten, 35 Euro

Rayk Wieland schrieb in KONKRET 10/03 einen Nachruf auf Peter Hacks

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