Dietrich Kuhlbrodt
Mit seinen "unbequemen Wahrheiten" macht es der Politprediger und Umweltschutzpatron Al Gore vielen recht
Letztes Jahr hatte der weggemogelte künftige Präsident der USA mit Film und Buch, Eine unbequeme Wahrheit, den aktuellen Stand der Klimaforschung demonstriert und sich dabei die sogenannten Klimaskeptiker in Amerika vorgenommen, die bekanntlich die Fakten der Erderwärmung leugnen. Mit einer Fülle von Schaubildern, Quellen und Zitaten belegte er, wer hinter den Kräften steht, die den Klimaschutz sabotieren und Kyoto-Protokolle nicht unterschreiben. Klar, die Bush-Regierung ist es, die Exekutive infolgedessen, und dahinter steht die Wallstreet, also die Hochfinanz, und die Ölindustrie mit ihrem CO2-Output. Sie sind die wahren Herren des Staats. Die Regierung ist in ihrem "Privatbesitz".
Uff. Hat Al Gore dies wirklich gesagt? Er sagt es jetzt, in seinem neuen Buch Angriff auf die Vernunft, das sich der "einstigen" Demokratie in seinem Land zuwendet. Gore bleibt bei seiner Technik, Fakten aneinanderzureihen. Gewähr für die Richtigkeit ist vorhanden. Mit der unbequemen Wahrheit hatte er sich Vertrauen erworben. Ich hab es persönlich überprüft und bei unseren Topwissenschaftlern der Klimafolgenforschung recherchiert. Ich war verblüfft. Kein Einwand. Im Gegenteil: abgesehen von wenigen klitzekleinen Details sei er auf der Höhe der Forschung. Ihre Erkenntnisse seien korrekt wiedergegeben, und jetzt kommt's: "Al Gore ist unser Mann."
Ich weiß inzwischen auch, warum ich angesichts der unbequemen Wahrheit reserviert geblieben war. Im Film ist der Beinahepräsident unentwegt im Bild. 90 Minuten Lecture. Bild für Bild, Tabelle für Tabelle wird gebeamt, und Gore als sein eigener Moderator sorgt für lockere Stimmung und glänzende Unterhaltung. Anekdotisch, assoziativ, autobiographisch, auch aggressiv. Ich dachte, ich hätte die Technik mit den vielen As selbst erfunden. Dabei ist sie im Angelsächsischen Alltag.
Womit ich allerdings nicht klarkomme, ist das Marketing der DVD. Die Missionierung. Unter den "10 Dingen, die Sie tun können" finden sich "Tauschen Sie Ihren Duschkopf gegen ein Wassersparmodell aus" - okay - und "Informieren Sie sich auf www.eine-unbequeme-Wahrheit.de, und werden Sie aktiv". Schwupps, bin ich in der Gemeinde. Aber vielleicht sind das ja auch nur jugendgerechte Zehn Gebote. Eine Fassung der unbequemen Wahrheit als Jugendbuch ist gerade erschienen.
Die vernünftige und im Hinblick auf das eigene Land dringend nötige Propagierung des Klimaschutzes ist jetzt im neuen Buch eines der neun Kapitel. Wer greift in den USA das Vernünftige an? Was führt zum "Niedergang" des Kongresses? Warum ist die amerikanische Demokratie "immunschwach" geworden? Wer hat in den USA unter dem "Anschein der Demokratie" die Macht ergriffen? Wieder versammelt Al Gore Fakten, Quellen, Aussagen. Diesmal aber nicht auf die unterhaltsame Weise, sondern mit Eifer und Zorn und einer Wut, die nicht ohnmächtig ist. Wir sagten es schon: Hochfinanz und Ölindustrie gelang es, die Demokratie zu entkernen und zur Gewinnmaximierung zu nutzen. Sozusagen ein Staatsstreich. Warum konnte er gelingen? Weil das öffentliche Forum, das sich die Verfassungsväter vorgestellt haben, verkümmert war: der Platz, auf dem Meinungen ausgetauscht und auf vernünftige Art und Weise gebildet werden konnten. Und wieso ist der Platz wegsaniert? Weil statt vieler einzelner, die Worte tauschen konnten, Radio und Fernsehen exklusiv Einwegbotschaften sendeten. Den neuen Medien war der Bürger ausgeliefert. Für seine Meinung, sein Feedback gab's keinen Kanal.
Al Gore beschreibt die fatale Lage umfassend. Zitiert werden Pynchon, Kafka, die alten Griechen. Die abendländische Kultur vs. Korruption und Medienmißbrauch in den USA. Solange Politiker nur mit Hilfe von Großsponsoren wiedergewählt werden können, machen sie Politik für die Lobbyisten - für die Großindustrie. Solange der Wahlkampf nur mit "werbedesignten" 30-Sekunden-Spots ausgetragen wird, ist der Platz für vernünftige Diskussion abgeschafft. Kein Wunder, daß der Industrie willfährige Politiker wie Bush - mangels Response und Kontrolle durch die Bürger oder Legislative und Judikative - unvernünftig entscheiden. Gore hat es auf das Desaster des Irakkrieges abgesehen. Das Land sei zur "Goldgrube für die Terroristen" geworden.
Halt! Al Gore sagt in seinem Buch nix davon, daß seine Demokraten bis zum heutigen Tag die Kriegskredite für Bush bewilligen. Statt dessen vergleicht der Politautor die Nutzung der Einwegmedien Radio (zwanziger Jahre) und TV (fünfziger Jahre) mit der totalitären Propaganda von Stalin, Hitler und Mussolini. Jei. Muckt wer auf? Al Gore setzt den "unamerikanischen" amerikanischen Demokratieusurpatoren den amerikanischen, vernunftentwöhnten, aber im Kern vernünftigen Bürger entgegen, der sich angesichts der Angriffe durch Kapital und Konzerne nur politikverdrossen zeigen kann. Wieder wird seine Ansicht durch allerlei Statistiken belegt.
Geschrieben ist das Buch mit durchgehender Redundanz, also gut zu lesen, um nicht zu sagen: zu überfliegen. Denn all die Fakten, die er versammelt, sind bekannt. Sie sind jetzt unter die Haut gehend montiert und mit populistischem Elan vorgetragen. Und durch diesen und jenen biographischen Einschlag in den Rang des Authentischen gehoben. Bis zum Schlußkapitel. Das hat es in sich. Denn wieder endet das Buch mit einer Art Zehn Gebote auf gehobenem Niveau. Frage: Wie lassen sich die besten Köpfe, die im aktuellen System außen vor bleiben, zu Antworten auf die Fragen zur Zukunft bewegen, und wie lassen sich die geistigen Potentiale und Ressourcen erschließen? Antwort: Es gilt, die kollektive Intelligenz, ihr Netzwerk an Einfluß, ihr Wissen und ihren Einfallsreichtum so zu entfesseln, wie einst die Freiheit des Marktes die kollektiven Produktivkräfte entfesselte. "Wir, das Volk", müssen unsere einstige Fähigkeit zurückgewinnen, an zentraler Stelle an der Rettung unserer Verfassung mitzuwirken.
Was genau hilft? Das Internet. Es ist ein ausbaufähiges und zukunftsträchtiges Medium für die noch darniederliegende partizipatorische Demokratie von unten, die neue Plattform der Vernunft. "Blogger sind mitdenkende Bürger." Die "Streiter für Demokratie" haben ihre eigenen Techniken entdeckt, wie man sich online organisieren kann, neben den Blogs die Wikis. Auf Wikipedia kann jeder zugreifen! Hei, jetzt wird's autonom, Herr Nochnichtpräsident. Euphorisch auch. Die Lösung ist da! Bush so gut wie schon weg!! Wir machen's!! Wir sind die Zukunft!!
Echt? Ja. Für Al Gore trifft es sich jedenfalls gut. Er ist als Direktor und Berater für Google tätig, auch für Apple Computer, für den Satellitensender Current TV und für Generation Investment Management, ein Unternehmen für nachhaltiges, umweltverträgliches Investment. Der Angriff auf die Vernunft endet mit Werbung für die eigenen Unternehmen. www.current.tv biete kostenfrei das beste Online-Schulungsprogramm. Video Streaming (auch Web-TV) via Internet stehe uns bevor. Das Bloggen habe schon längst die institutionelle Kraft, auf die nationale Politik Einfluß zu nehmen. "Nicht zuletzt habe ich mit meinem Partner Joel Hyatt in den letzten sechs Jahren an der Entwicklung einer neuen Form des Fernsehens gearbeitet, die den einzelnen in die Lage versetzt, in der Sprache dieses Mediums an der demokratischen Diskussion teilzunehmen (www.algore.com)." Also reinklicken und dann was Kleines spenden, millionenfach, und dadurch "in der Summe die gewaltigen Spenden der wenigen Großsponsoren bei weitem übertreffen".
"Wir sind erst der Anfang einer globalen Bewegung", hat unser Autor in diesem Jahr befunden - diesmal aber als Präsident der Herzen auf den milliardenträchtigen Live-Earth-Konzerten. Großsponsor Daimler-Chrysler beteiligte sich und nutzte den globalen Beginn zur Imagewerbung. Noch Fragen? Al Gore: Angriff auf die Vernunft. Aus dem Englischen von Friedrich Pflüger und Enrico Heinemann. Riemann, München 2007, 400 Seiten, 19 Euro
ders.: Eine unbequeme Wahrheit. Aus dem Englischen von Richard Barth und Thomas Pfeiffer. Riemann, München 2006, 328 Seiten, 19,95 Euro
ders.: Eine unbequeme Wahrheit. Bearbeitete Ausgabe für junge Leser. Aus dem Englischen von Richard Barth und Thomas Pfeiffer. CBJ, München 2007, 208 Seiten, 14,95 Euro
"Eine unbequeme Wahrheit". DVD. Paramount Home Entertainment
Dietrich Kuhlbrodt ist in dem von Richard Gebhardt herausgegebenen Band Rosen auf den Weg gestreut. Deutschland und seine Neonazis (Papyrossa) mit einem Beitrag vertreten