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Das Leben, ein Kaffeeklatsch

Wer hofft, über Homosexualität die Gesellschaft verstehen zu können, kommt im besten Fall zu der Einsicht, daß das nicht funktioniert - sagt Ilse Bindseil

Die eindeutige Trennung zwischen gesellschaftlichen Mechanismen und Trieb, die es ermöglichen würde, Homosexualität und Gesellschaft einander gegenüberzustellen, gibt es nicht. Abstrakte Zusammenhänge, man kann auch sagen: Klischees sind der Hintergrund spontaner Äußerungen wie tiefsinniger Kommentare. Homosexualität ist das Gesellschaftliche schlechthin, als Trend, lautet etwa die Grundlage von Adrian Wildes Rezeptbuch für Heteros "Warum Schwule mehr Stil haben und was wir alle von ihnen lernen können". "Also, es sind zwei unterschiedliche Welten", so beschreiben demgegenüber, im Forschungsbericht der Projektgruppe Schöneberg Nord, jugendliche Migranten ihr Verhältnis zur Schwulenszene in dem Berliner Stadtteil.

Am wenigsten Probleme hat die empirische Wissenschaft, der alles in der gleichen Unmittelbarkeit Untersuchungsobjekt ist und noch das Undurchsichtigste bloß eine methodologische Herausforderung. Der Titel des Bandes "Sexuelle Orientierungen. Weg vom Denken in Schubladen" ist denn auch lediglich im Hinblick auf das reflektierte Methodenbewußtsein korrekt; schließlich geht es wesentlich um Interneterhebungen und allenfalls indirekt um die Naturgeschichte von Sexualität. Wie ein Übergriff mutet der aufgemotzte Umschlag und die schlagwortartige Zusammenfassung der methodisch längst verselbständigten Untersuchungsergebnisse an, auch deren Ummünzen in konkrete Ratschläge zu den "beiden großen Themenblöcken der Vorurteile und ihrer Dynamik und des Coming-out" - was sich sicher schlicht aus der praktischen Tätigkeit der Autoren erklärt, die im wissenschaftlichen Kontext freilich entfremdet wirkt. Hat man die verzerrende Präsentation - inklusive des lieblosen Lektorats - weggesteckt, stellt man fest, daß man durchaus gelernt hat zu differenzieren.

Eine in kompromißlose Aufrichtigkeit mündende Sorgfalt kennzeichnet die Untersuchung der Schöneberger Projektgruppe, die sich auch durch die geringe Zahl der Befragten, das unaufhaltsame Verschwinden ihres Gegenstandes unter dem methodisch integren Blick nicht korrumpieren läßt, vom Desaster der Wissenschaft freilich nicht ausgeschlossen ist. Sie geht von der Prägung des Schöneberger Kiezes sowohl durch eine glamouröse Schwulen- als auch durch eine bis hin zur Bildung von Gangs verfestigte Szene von Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus und endet dank ihres akribischen Vorgehens bei dem Ergebnis, daß es über die historische Vertreibung des Café PositHIV hinaus weder Berührungspunkte noch wesentliche Konflikte gibt. Offenbar ist der Zusammenhang der "unterschiedlichen Welten" ein Nebeneinanderherexistieren, die Art, miteinander umzugehen, die Vermeidung. Aber so weit war die Großstadtsoziologie bereits. Womöglich ist die verbreitete Vorstellung, man habe es mit Rändern zu tun, der Grund dafür, daß in der Mitte etwas fehlt. Die vermutete Auseinandersetzung findet jedenfalls nicht statt; da arbeitet sich keiner am andern ab. Der Umzug des Café PositHIV aus einer als Ghetto definierten Wohnstraße in die belebte Nachbarstraße stellte den Minimalabstand wieder her und beendete den Konflikt.

Daß bei der Untersuchung nicht mehr herauskommt, als angedacht wurde, vielmehr weniger - und der Leser teilt natürlich die Enttäuschung -, ist als Ergebnis einerseits zwar so gut wie jedes andere und auch verantwortlich für den durchschlagenden Eindruck der Redlichkeit, andererseits freilich eine Konsequenz der als Methode zugrunde gelegten Interviews. Die Redseligkeit der schwulen Community, wie sie von Adrian Wilde persifliert und propagiert wird, die liberale Bereitschaft, den Gegner zu verstehen, als Minderheit der anderen Minderheit nicht mit Feindseligkeit zu begegnen, und die Sprachlosigkeit der Jungs aus der Migrantenszene, ihre mangelnde Empathie (vor allem sich selbst gegenüber) prallen aufeinander. Mädchen müssen hinzugezogen werden, weil die sich eher äußern, um nicht zu sagen: von den Talkshows besser gelernt haben. Stichwort: der Underdog als Experte. Während man schwule Gesprächspartner auf der Straße, in den Cafés auftun kann, müssen Jugendsozialarbeiter den Kontakt zur Gegenfraktion vermitteln. Aus Prestigegründen haben alle schon mal von Gewalt gehört, und natürlich finden sie Homosexualität eklig (so wie sie die eigene Sexualität, die von Vater, Mutter, Schwester, Lehrerin eklig fänden, wenn sie gehalten wären, sie so isoliert zu betrachten, sie sich vorzustellen, wie eben die schwule).

Ganz sicher ist die Methode eines qualifizierten Zuhörens nicht für beide Probandengruppen gleich geeignet. Entweder haben sie wirklich nichts miteinander zu tun - und wenn man auf Sprache setzt, bestätigt sich das im Zirkelschluß -, oder was sie miteinander zu tun haben, gelangt zu keiner eigenen Existenz, dräut lediglich in Gestalt kontingenter Ereignisse, ahnungsvoller Anspielungen oder ironischer Bonmots wie dem vom schwulen Bermudadreieck um die Alvenslebenstraße herum. Dessen Abgründigkeit kann nur ermessen, wer weiß, daß diese Straße, die die Verlängerung der legendären Winterfeldtstraße über die Potsdamer Straße hinaus in ein kaputtsaniertes Viertel ist, buchstäblich keinen über die eigene Haustür hinausgehenden Grund bietet, sie aufzusuchen (das Angebot einer Reinigung oder so). Wenn es eine Verbindung zwischen den beiden Szenen gibt, dann in der abstrakten Welt der Menschenrechte oder eines überbordenden guten Willens, nicht aber in Schöneberg Nord. Das Hauptkennzeichen dieser Gegend ist nicht etwa, daß sie begrenzt, vielmehr für die, die dort leben, das Universum ist.

Daß die Schwulen mit der Gesellschaft kollidieren, ist das eine, daß sie selbst das Ideal der Gesellschaftlichkeit repräsentieren, das andere. Spannend wäre es zu debattieren, wie das eine mit dem andern zusammenhängt. Adrian Wildes Erörterung lebt von der Oberflächlichkeit, die er konstatiert, und gleichzeitig von einer Ironie, die vermeintlich aus tieferen Ursachen schöpft. Die machen sich gelegentlich bemerkbar und verbreiten Melancholie, etwa wenn die genierliche Leidenschaft für "Lindenstraße" als Sehnsucht nach Familienleben interpretiert wird, die für Schlagerwettbewerbe, für Madonna und so weiter als Traum von einer schwulen Welt. Die wäre das Gegenteil der herrschenden Hetero- wie der Ghettoversion: Gesellschaft, die sich nicht durch die Alternative Verwertung oder Ausrottung auszeichnet, sondern, als Plauderei über alles und nichts, zugleich Trivialisierung und Sublimierung ist: Gesellschaft als Kaffeeklatsch (nicht zufällig nimmt Wilde auf die entsprechende Sonntagnachmittagsendung Bezug). Die hat ihre eigene Systematik und Geschichte. Daß sie auch ein Geschlecht hat, dieser Behauptung haben andere und zu andern Zeiten den Weg gebahnt, am wirkungsvollsten undercover (siehe Proust). Wahrer wird sie dadurch nicht. Denn es kann sich zwar bei genauerem Hinsehen das natürliche Geschlecht restlos in Gesellschaft auflösen, und das ist unangenehm genug, aber das Gesellschaftliche nicht in Geschlecht.

Projektgruppe Schöneberg Nord: "'Also, es sind zwei unterschiedliche Welten.'" Shaker, Aachen 2009, 162 Seiten, 26,80 Euro

Adrian Wilde: "Warum Schwule mehr Stil haben und was wir alle von ihnen lernen können". Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2009, 204 Seiten, 7,95 Euro

Meike Watzlawik/Nora Heine (Hg.): "Sexuelle Orientierungen". Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, 206 Seiten, 23,90 Euro

Ilse Bindseil erinnerte in KONKRET 8/09 an Jörg Schröders Klatschbuch "Siegfried"

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